ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Pamela E. Swett, Neighbors and Enemies. The Culture of Radicalism in Berlin, 1929-1933, Cambridge University Press, Cambridge 2004, 335 S., geb., $ 75,00.

Pamela Swetts Analyse der politischen Gewaltkultur und der Straßenkämpfe im Berlin der untergehenden Republik wird vom Verlag im Klappentext als eine völlig neue Interpretation des Zusammenbruchs der ersten deutschen Demokratie angekündigt. In der Einleitung sorgt auch die Verfasserin selbst dafür, dass die Messlatte der Erwartungen extrem hoch gelegt wird: ,,The primary goal of the book [...] is to offer an interpretation of the collapse of the republic that emanates from Berlin´s neighborhood-based radical culture" (S. 7). Wer diesen Anspruch zum Maßstab macht und tatsächlich erwartet, auf der Basis einer Mikrostudie zum ,,Kiez" um die Kreuzberger Nostitzstraße einen insgesamt schlüssig argumentierenden und zudem innovativen Deutungsentwurf zum Verfall der Weimarer Republik präsentiert zu bekommen, der wird Pamela Swetts Studie nach der Lektüre enttäuscht zur Seite legen. Weitaus positiver ist dagegen der Eindruck, wenn man sich ohne den Druck weit überzogener allgemeiner Deutungsansprüche auf das Lesevergnügen einlässt, der Verfasserin bei ihrer ansprechend erzählten ,,dichten Beschreibung" in ein Berliner Arbeiterquartier zu folgen, das während der Endphase der Weimarer Republik einen besonders herausgehobenen Kulminationspunkt der politischen Polarisierung und Radikalisierung und folgerichtig auch der Straßenkämpfe darstellte. Denn Swetts kulturwissenschaftlich geprägte Studie beleuchtet einen zwar sehr speziellen, aber keineswegs unwichtigen Aspekt der Gesellschafts-, Kultur- und Alltagsgeschichte der untergehenden Republik in ebenso spannender wie anschaulicher Art und Weise.

,,Neighbors and Enemies" gliedert sich in fünf Kapitel: Zunächst stellt die Verfasserin das urbane Profil des weiter gefassten Untersuchungsfeldes Berlin sowie die spezifische Prägung ihres als Fokus gewählten kleinräumigen Quartiers um die Nostitzstraße vor (S. 24-78). Wie es angesichts der Berliner Verhältnisse nicht anders sein kann, wird der Kiez als Ausdruck einer sehr kleinräumig angelegten, lokalen Identitätskonstruktion beschrieben. Da die Verfasserin ihren Ansatz einer kleinräumigen Mikrostudie zum handlungsleitenden Konzept erhebt, sollte sich allerdings die empirische Rekonstruktion auch im Wesentlichen auf Materialien zu diesem konkreten Kiez stützen. Die Verlockung, bei partiellem Fehlen entsprechender Quellen zur Abrundung des Gesamteindruckes auch Befunde aus anderen Arbeiterquartieren heranzuziehen, ist angesichts einer unterschiedlich dichten Quellenlage, nur zu verständlich. Diese Verfahren mindert letztlich aber die Überzeugungskraft ihrer Analyse und wird insbesondere für Leser/-innen, die die Berliner Kieze nicht wie ihre Westentasche kennen, gegebenenfalls auch problematisch, wenn in rascher Folge und ohne erklärende Hinweise zwischen dem eigentlichen Untersuchungsgebiet und anderen Arbeiterquartieren hin und her gesprungen wird.

Im zweiten Kapitel (S. 79-136) richtet die Verfasserin ihr Augenmerk auf Konflikte, die das Funktionieren ehemals stabiler Nachbarschaften unter dem Druck der wirtschaftlichen Depression in Frage stellten. Dabei macht sie sowohl geschlechts- als auch generationsspezifische Bruchlinien aus: Wegen des höheren Lohnniveaus verloren Männer noch häufiger ihre Jobs als Frauen. Zudem sahen sie sich durch die Arbeitslosigkeit in ihrem Selbstbild nachhaltiger beeinträchtigt als die Arbeiterinnen. Gewissermaßen als Reaktion auf die derart beschädigte Identifikationsgrundlage prägten vor allem junge Männer, von denen viele im Gegensatz zu ihren älteren Geschlechtsgenossen häufig niemals in stabile Arbeitsverhältnisse gekommen waren, eine Kultur des gewalttätigen Radikalismus aus. Hieraus resultierten Spannungen, die - unter explizitem Bezug auf die bekannten Thesen von Detlev Peukert (1) - anschaulich und zutreffend beschrieben werden. Dies alles ist freilich nicht neu, und gelegentlich bleibt zudem die Frage offen, ob hier eigentlich aus lokalen empirischen Befunden theoretische Erkenntnisse abgeleitet werden oder ein a priori vorhandener systematischer Erklärungsansatz unter Verwendung von empirischen Belegstücken illustriert wird. Schließlich werden einmal mehr die bekannten Ereignisse des ,,Blutmai" 1929 ausführlich referiert, da dieses Ereignis nach Swett unter den proletarischen Kiezbewohnern als eine Art Katalysator wirkte. Man meinte, - in diesem Falle durch die Berliner Schutzpolizei - auf dem eigenen Territorium ,,angegriffen" zu werden und daher zurückschlagen zu müssen.

Insgesamt folgt Swett in ihrer Analyse keineswegs einem deterministischen Reiz-Reaktions-Schema, nach dem aus der ökonomischen Krise und dem hieraus resultierenden Identitätsverlust automatisch eine politische Radikalisierung bis hin zum gewalttätigen Straßenkampf hätte folgen müssen. Vielmehr betont sie im dritten Kapitel (S. 137-187) die vorhandenen politischen Optionen, die sich den Bewohnern der Berliner Arbeiterviertel stellten und diskutiert sie kontrastierend. Allerdings beschreibt sie die Präsenz der drei konkurrierenden Arbeiterparteien KPD, SPD und NSDAP sowie die Angebote ihrer Vorfeldorganisationen weitgehend auf der Ebene der Gesamtstadt, also über weite Strecken völlig losgelöst von ihrem eigentlichen Kreuzberger Untersuchungsfeld. Dies stellt in konzeptioneller und methodischer Hinsicht einen empfindlichen Bruch dar.

Im vierten Kapitel (S. 188-231) vertieft die Verfasserin ihre grundlegende These, dass die zugespitzte Kultur der Gewalt in den Arbeiterkiezen aus einer von den Anweisungen der jeweiligen Parteileitungen relativ unabhängigen und eigenständigen Orientierung entsprungen sei. Sie betont, dass es zwischen KPD- und NSDAP-Anhängern in den Arbeiterquartieren durchaus enge alltägliche Kontakte gegeben habe. Der wohl überpointierte Befund, dass es immer wieder zahlreiche ,,Seitenwechsler" zwischen den beiden radikalen Flügelparteien gegeben habe, sowie die Tatsache der partiellen Zusammenarbeit beim BVG-Streik sind für Swett ein Beleg dafür, dass die lokale Öffentlichkeit in diesen Kiezen weniger von klaren politischen Fronten bestimmt gewesen sei, als von einer durch die jungen Männer getragenen Kultur der Gewalt mit durchaus gemeinsamen Aktionsformen, auch bei unterschiedlichen politischen Präferenzen.

Im empirisch noch einmal recht ,,dichten" fünften Kapitel (S. 232-285) analysiert Swett den Kontext der von ihr unterstellten ,,logic of violence", indem sie die soziale Trägergruppe dieser Gewaltkultur weiter konkretisiert und differenziert, die sie zuvor meist mit dem schwammigen Begriff der ,,radikalisierten Arbeiter" recht pauschal gefasst hatte. In diesem Abschnitt hat sich die Verfasserin auch in besonderer Weise bemüht, neue Quellen für ihre Untersuchung fruchtbar zu machen: Sie nutzt die Akten des städtischen Wohlfahrtsamtes und der zuständigen Gerichte, zum einen, um das soziale Profil der jugendlichen Gewalttäter zu erhellen. Zum anderen rekonstruiert sie aus den referierten Fallgeschichten das staatliche Verhalten gegenüber den Trägern der Gewaltkultur. Insgesamt kommt Swett zu dem pointierten Ergebnis, dass die Behörden und die Justiz zwar Exzesse negativ sanktionierten und einzudämmen suchten, im Prinzip aber die alltägliche Gewalt als gängige politische Strategie hinnahmen (S. 276).

Zwei gravierende Defizite mindern die Überzeugungskraft dieser mit großem Fleiß und einem beeindruckendem Gespür zur Erschließung aussagekräftiger Quellen erarbeiteten Studie leider ganz erheblich: die mangelnde Rezeption des Forschungsstandes und die Überdehnung des Deutungsanspruches. In auffälligem Kontrast zu der sehr kreativen und ertragreichen Erschließung neuer Primärquellen hat die Verfasserin die bereits vorliegenden Forschungsergebnisse leider nur sehr selektiv rezipiert. So entwickelt sie den roten Faden ihrer Untersuchung (vgl. S. 10-14) ganz wesentlich in Bezugnahme auf einige zentrale englischsprachige Studien. Die Auswahl der vergleichsweise wenigen deutschsprachigen Untersuchungen, auf die überhaupt eingegangen wird, überrascht dagegen insofern, als es sich tendenziell um eher allgemeine Untersuchungen handelt. Dabei gab es schon einmal eine Studie, die sich recht intensiv mit der Frage von politischer Radikalisierung und Straßenkämpfen in den frühen 1930er-Jahren beschäftigt hat, die ebenfalls in ganz hohem Maße auf Fallbeispiele aus Berlin rekurrierte und teilweise sogar dieselben archivarischen Quellen, wie jetzt Swett, benutzte. Swett führt Christian Strieflers Untersuchung ,,Kampf um die Macht" (2) zwar im Literaturverzeichnis auf, setzt sich mit ihr aber kaum auseinander, sondern berücksichtigt sie bei ihrer Diskussion des Forschungsstandes nur im Rahmen einer einzigen pauschalen kritischen Fußnote (Anm. 13 auf S. 10). Gerade wenn Swetts Analyse auf einer ähnlichen, partiell sogar identischen Quellenbasis mit guten Gründen zu ganz anderen Ergebnissen kommt als seinerzeit Strieflers Untersuchung, wäre es doch angezeigt gewesen, dies in der Erörterung des Forschungsstandes zu reflektieren.

Dass die Verfasserin weitaus seltener Neuland betritt, als sie glaubt, hätte sie auch in der von mir 1998 vorgelegten Studie zu ,,Nationalsozialismus und Arbeitermilieus" (3) nachlesen können, die für die Jahre vor und nach 1933 den symbolisch aufgeladenen Kampf um Terrain anhand unterschiedlich strukturierter Arbeiterquartiere in mehreren Großstädten untersucht. In einigen Punkten ergeben sich für das von mir in diesem Rahmen näher betrachtete Neukölln durchaus ähnliche, in mancher Hinsicht allerdings auch klar abweichende Befunde.

Von ähnlich grundsätzlicher Natur ist auch der zweite prinzipielle Einwand. Pamela Swett glaubt allen Ernstes, dass das ganz spezifische Sozialmilieu in Berliner Arbeiterkiezen als pars pro toto für das gesamt Deutsche Reich zu sehen ist, um somit aus ihren empirischen Befunden allgemein gültige Interpretationen ableiten zu können (S. 6).In ihrer verkürzten Sichtweise spiegelt sich eine fundamentale Unkenntnis der stark regionalspezifischen Prägung Deutschlands. Eine sich nicht allein auf fünf beliebig herausgegriffene Titel zu Hamburg (Anm. 3 auf S. 6) erschöpfende Kenntnisnahme der zahlreichen Regionalstudien und der ebenfalls vorliegenden regional vergleichenden Studien hätte hier weiterhelfen können. In Deutschland war die Hauptstadt eben kein repräsentatives Spiegelbild der Nation, denn in den Regionen dominierten ganz unterschiedliche Sozialmilieus und politische Lager. Der ,,Kampf um Berlin" (so lautete ja die gängige Propagandaparole der Nazis) war in keiner Weise repräsentativ für den politischen Aufstieg der NSDAP im Deutschen Reich. Der Erfolg der nationalsozialistischen Massenbewegung war vor allem auch ein Aufstand der Provinz gegen die Metropole Berlin, die in besonderer Weise für urbane Modernität, für den Durchbruch der vom Kulturkonservatismus gehassten Massenkultur und für die künstlerische Avantgarde stand. Was im Nostitz-Kiez die Entwicklung prägte, hat beispielsweise überhaupt keine Relevanz für den seit 1929 schnellen und nachhaltigen Massenerfolg der NS-Bewegung unter protestantischen Bauern oder den wesentlich mühsameren Aufstieg in einer katholischen Klein- oder Mittelstadt. Die Verfasserin sitzt hier einem Mythos auf. Dass die reale politische Situation in Deutschland weit von dem Szenario entfernt war, dass das ,,rote Berlin" tatsächlich ein Barometer für die politische Stimmung in Deutschland gewesen sei, ist bekannt und vielfach belegt. Ralf Stremmels Beitrag, in dem er die Schimäre vom ,,roten Berlins" entzauberte, hat die Autorin leider nicht rezipiert.

Was bleibt unter dem Strich? Pamela Swetts Buch ist als ein weiterer empirischer Baustein zum Verständnis des Aufstiegs der Nationalsozialisten in großstädtischen Arbeitermilieus wertvoll und aussagekräftig, wobei freilich stets in Rechnung gestellt werden muss, dass Berlin eben einen Sonderfall darstellt und somit die hier erhobenen Befunde ohne Modifikationen noch nicht einmal auf proletarische Viertel in anderen Großstädten übertragen werden können. Insgesamt vermittelt die Untersuchung von Pamela Swett keineswegs einen überzeugenden neuen Interpretationsansatz zum Ende der Republik. Punktuell werden zwar durchaus neue Akzente gesetzt - vor allem dort, wo die Verfasserin mit ihrer dichten Beschreibung von geschlechtsspezifischen Verhaltensmustern und Rollenentwürfen die soziale Gruppe der jungen Männer als Trägergruppe von Straßenkämpfen und eigensinniger Gewaltpolitik porträtiert. Die auf der Basis dieser kulturwissenschaftlich akzentuierten Perspektive herausgearbeiteten Ergebnisse falsifizieren oder relativieren den bisherigen Forschungsstand allerdings keineswegs; sie ergänzen und illustrieren ihn vielmehr materialreich anhand eines gut durchgearbeiteten Fallbeispiels. Insofern trägt Pamela Swetts Studie zur weiteren empirischen Fundierung und Konkretisierung des Forschungsstandes bei.

Detlef Schmiechen-Ackermann, Hannover

Fußnoten:


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