ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Uwe Hoßfeld/Tobias Kaiser/Heinz Mestrup (Hrsg.), Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945-1990), 2 Bde., Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2007, 2334 S., 70 s/w Abb., geb., 129,00 €.

Die Thüringische Landesuniversität Jena hat sich mit den vorliegenden Bänden ein weiteres Mal in ausführlicher, fundierter und engagierter Form mit ihrer Geschichte im 20. Jahrhundert auseinandergesetzt. Der bereits 2003 erschiene Band ,,Kämpferische Wissenschaft" (1) beschäftigte sich mit der Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität (FSU) im Dritten Reich und war eingebettet in die Erkenntnisse von Universitätsgeschichten anderer Hochschulen während des Nationalsozialismus. Der jüngst erschienene Sammelband hingegen ist eine Pionierleistung. Er umfasst zwei umfangreiche Bände, die - wie so oft in der Universitätsgeschichtsschreibung - an ein Jubiläum geknüpft sind: Nächstes Jahr feiert die Friedrich-Schiller-Universität ihre Gründung vor 450 Jahren. Für 2008 sind eine Reihe wissenschaftshistorischer Tagungen geplant und die Herausgabe einer einbändigen, möglichst viele Interessierte ansprechenden Gesamtdarstellung. Insofern verstehen sich die Forschungsbände als eine Art Vor-Arbeit. Entsprechend zurückhaltend sprechen die Herausgeber von dem ,,vorläufigen Charakter" einiger Ergebnisse und betonen im Vorwort ihren Wunsch nach Kritik und Auseinandersetzung (S. 15f.). Sie sind sich des ,,verminten Territoriums" bewusst, auf das sie sich begeben; sie kennen die Probleme der Zeitgeschichtsforschung im Umgang mit den Quellen, den Zeitzeugen und nicht zuletzt hinsichtlich der generellen Bewertung der DDR-Vergangenheit. Gerade weil der Band von der Vielfalt seiner Autoren, Themen und methodischen Zugängen lebt, orientiert er sich auf den Grundkonsens, dass ,,die DDR weder von ihrem Ende, noch von den scheinbar guten Anfängen her zu betrachten" sei (S. 16).

Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die Bände umfassen auf über 2.000 Seiten insgesamt 86 Beiträge. Neben gestandenen Jenaer Historikern präsentieren Nachwuchswissenschaftler die Ergebnisse ihrer Graduierungsarbeiten. Mit Disziplingeschichte befassen sich zumeist Vertreter der jeweiligen Fachrichtung; Zeitzeugen kommen ebenfalls zu Wort. Zudem konnte die Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte auch eine Reihe auswärtiger Wissenschaftshistoriker für ihr Projekt gewinnen.

Die beiden Bände untergliedern sich in neun Themenschwerpunkte. Diese sind zum einen chronologischen Abfolgen unterworfen (Die Universität vor bzw. nach der ,,Dritten Hochschulreform"). Zum anderen folgt die Gliederung problemorientierten Ansätzen (themengebundene Längsschnitte bzw. strukturgeschichtliche Zugänge, Studentengeschichte, die Beziehung der Universität zum öffentlichen Raum, Disziplingeschichte, Personengeschichte sowie das Problemfeld Kritik/Opposition/renitentes Verhalten). Abgeschlossen wird die Jenaer Universitätsgeschichte in der DDR durch eine Übersicht über die bisherige Forschung zur DDR-Wissenschafts- und Universitätsgeschichte allgemein, die - das als kritische Anmerkung - zu Beginn des Sammelbandes mehr Sinn gemacht hätte. Dem folgen tabellarische Auflistungen der Rektoren, Prorektoren und Parteisekretären sowie der Entwicklung der Fakultäten und Institute der FSU zwischen 1945 und 1989.

Die klassischen Zugänge zur Universitätsgeschichte über Studenten, Disziplinen oder Personen nehmen damit ebenso beachtlichen Raum ein wie die für die DDR-Hochschulforschung spezifischen Fragestellungen nach Universität und MfS sowie nach den sogenannten Hochschulreformen. Neben diesen typischen Themen steht eine Reihe von Beiträgen, die bisher unterbelichtete Aspekte untersuchen, etwa die Universitätsfinanzierung (vgl. Beitrag von Andreas Busch) oder den sozialgeschichtlichen Aspekt des Hochschullebens. So untersucht etwa Jana Woywodt auf der Basis quantitativer Erhebungen und biografischer Interviews die Sozialstruktur der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Jena sowie die Wege ihrer Absolventen. Heinz Mestrup fokussiert in seinem Beitrag die ,,kleine Welt" der Universität und fragt nach dem ,,normalen Wissenschaftsalltag" im Leben der Dozenten und Studenten der FSU während der Honecker-Ära. Konkret mit dem ,,Mentalitätswandel" der Studierenden in diesem Zeitraum beschäftigt sich eine weitere sozialgeschichtliche Studie, die ein soziales Portrait der Jenaer Studierenden Ende der 1970er- und in den 1980er-Jahren zeichnet (vgl. Beitrag von Gustav-Wilhelm Bathke). Auf der Basis von Untersuchungen des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung vergleicht Bathke Studien von 1979 und 1989 und bezieht zum einen universitätsbezogene Entwicklungen, wie den Weg zum Studium, Fachverbundenheit oder Studienbedingungen ein. Zum anderen untersucht er den Wandel der weltanschaulich-politischen Einstellungen, hierbei auch die Verbundenheit der Studenten zur DDR sowie ihr Vertrauen in die Politik der SED. Als drittes fragt er nach der sozialen Lage der Studierenden, nach ihrer finanziellen Situation, den Wohnbedingungen, Partnerbeziehungen sowie nach Formen von kulturellem Leben.

Ebenfalls an der Schnittstelle von empirischer Sozialforschung und historischen Fragestellungen stehen die Beiträge von Stefan Wallentin und Axel Salheiser. Auf der Basis von Datenbanken beschäftigen sie sich quantifizierend mit der Struktur des Lehrkörpers der Jenaer Universität. Der Beitrag von Wallentin untersucht auf der Basis einer selbst erstellten Personal-Datenbank die soziale Zusammensetzung des Lehrkörpers der Universität Jena bis 1968. Die erstmalige Einbeziehung aller Lehrenden macht es ihm möglich, auch Aussagen über die Entwicklung des wissenschaftlichen Nachwuchses zu treffen - nicht zuletzt bezüglich ihrer Rekrutierung und politischen Ausrichtung. Salheisers Beitrag basiert auf dem zentralen Kaderdatenspeicher des Ministerrats der DDR und konzentriert sich auf die 1980er-Jahre. Mit Blick auf die soziale Zusammensetzung konnte er feststellen, dass das Ziel, eine sich aus der Arbeiterschaft rekrutierende, sozialistische Intelligenz zu etablieren, bis zuletzt nicht realisiert werden konnte, ,,der Trend der Selbstrekrutierung der Intelligenz [ist] in kaum einem anderen Bereich der DDR-Gesellschaft so markant wie im Wissenschaftssektor" (S. 440).

Bei der Untersuchung der einzelnen Fachdisziplinen der Jenaer Universität liegt ein Schwerpunkt des Sammelbands auf den Naturwissenschaften und der Medizin. Beiträge zur Theologischen Fakultät fragen nach ihrer Neuausrichtung nach 1945 sowie nach der Rolle und Funktion der evangelischen und katholischen Studentengemeinde (vgl. die Beiträge von Volker Leppin, Tobias Netzbandt und Stefan Gerber). Mit dem in der DDR-Historiografie vernachlässigten Thema der Rechtswissenschaft befasst sich Gerhard Lingelbachs Beitrag über die Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft. Einzelne Aufsätze zu geisteswissenschaftlichen Fächern, wie etwa der Beitrag von Angelika Pöthe und Reinhard Hahn zur Germanistik, knüpfen an ihre Forschungsergebnisse zur NS-Zeit an (2) und bieten so die Voraussetzungen für vergleichende Studien, die nach der Folge personeller (Dis)Kontinuitäten bei ,,bürgerlichen" Denktraditionen fragen könnten.

Dem Fach Geschichte widmet der Sammelband vier Beiträge. Ilko-Sascha Kowalczuk untersucht auf der Basis seiner bisherigen Arbeiten zur Wissenschaftsgeschichte der DDR die personellen Umschichtungen im Historischen Seminar und die Durchsetzung des historischen Materialismus als zentralen Bezugspunkt der Geschichtswissenschaft. Zwei der anderen Beiträge konzentrieren sich auf Teilbereiche der Jenaer Geschichtswissenschaft während der DDR und befassen sich mit der Alten bzw. Osteuropäischen Geschichte (vgl. die Beiträge von Detlev Lotze und Michael Abeßer). Bemerkenswerterweise kontrastierte bei letzterem die stark politisch-ideologische Ausprägung des Fachbereichs und seine herausragende Bedeutung für die Lehrerausbildung mit seinem langsamen institutionellen Ausbau - eine eigenständige Professur wurde erst 1985 eingerichtet.

Ein vierter Aufsatz zur Geschichtswissenschaft in Jena untersucht ein bedeutendes Projekt der geisteswissenschaftlichen Großforschung in der DDR: In Jena wirkte die produktive Arbeitsgemeinschaft ,,Geschichte der bürgerlichen Parteien in Deutschland" unter der Leitung von Dieter Fricke (vgl. Beitrag von Hans-Werner Hahn und Tobias Kaiser). Sie gab in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre nach mehr als 30-jähriger Forschungsarbeit das vierbändige ,,Lexikon zur Parteiengeschichte" heraus, das damals internationale Anerkennung erfuhr und heute zu den bleibenden Leistungen der DDR-Historiker zählt. Der Aufsatz beschreibt die Entstehung des Werks unter den DDR-spezifischen gesellschafts-politischen Bedingungen. Nicht zuletzt mit Rücksicht auf diese betonte Fricke, dass die Beschäftigung mit bürgerlichen Parteien in erster Linie ,,Gegnerforschung" sein müsse. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse könne man dann nutzen, um die noch immer wirkenden ,,Mechanismen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ,entlarven' zu können" (S. 1690f.). An die nach wie vor umstrittene Frage um den aktuellen Wert von DDR-Historiographie anknüpfend, (3) zeigt der Aufsatz an diesem Beispiel die Parallelität von respektablen wissenschaftlichen Ergebnissen einerseits und die ihrem Zustandekommen vorausgehenden ideologischen Argumentationen andererseits auf und interpretiert sie als prägendes Strukturelement der DDR-Wissenschaft (S. 1707).

In bemerkenswerter Weise gelingt es dem Sammelband, verschiedene Themen, Forschungsperspektiven und Wertungen zu vereinen. In dieser Vielfalt bietet er auch den Rahmen, unterschiedliche methodische Ansätze der Wissenschaftsgeschichte aufzuzeigen. Diskursanalytische Untersuchungen von Denkmustern und Argumentationsstrategien (vgl. Beitrag von Jürgen John) stehen so neben sozialgeschichtlichen Betrachtungen von Hochschullehrern und Studenten. Autobiografische Reflexionen eines aus politischen Gründen Exmatrikulierten (vgl. Beitrag von Lutz Rathenow) und die auf Zeitzeugen angewiesene Erforschung nichtkonformen Verhaltens in der DDR (vgl. Beitrag von Martin Morgner) werden ergänzt durch Beiträge zur Baugeschichte (vgl. etwa den Beitrag von Christian Gaudenz zur Entstehung des Universitätshochhauses) oder zur Re- und Dekonstruktion eines mysteriösen Spionage-Falls (vgl. Beitrag von Harald Wentzlaff-Eggebert). Was Peer Pasternack in seiner Übersicht über die Forschung zur DDR-Wissenschaftsgeschichte für eine andere Studie formulierte, kann mit gutem Recht auch für diesen Sammelband gesagt werden: Er ist eine ,,problembewusste und perspektivenreiche Darstellung [...], die Ambivalenz und Konflikte ausdrücklich nicht glättet, sondern aushält" (S. 2261). Ausgehend von der Universität Jena befassen sich die Beiträge mit Jena-spezifischen und hochschulwissenschaftlichen Fragestellungen, doch gelingt es ihnen meist, sie in einen größeren Kontext einzubetten und somit Aussagen über die politische, gesellschaftliche und intellektuelle Situation in der DDR allgemein zu treffen. So ist dieses Werk nicht nur ein Teil zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte in der DDR, sondern zugleich eine Bestandsaufnahme der Wissenschaftsgeschichte insgesamt.

Anna Lux, Leipzig

Fußnoten:


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