ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Peter Barker/Marc-Dietrich Ohse/Dennis Tate (Hrsg.), Views from Abroad. Die DDR aus britischer Perspektive, hrsg. im Auftrag des Centre for East German Studies und der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, W. Bertelsmann Verlag, Bielefeld 2007, 284 S., brosch., 19,90 €.

Die Forschung zur Geschichte der DDR ist im vereinigten Deutschland weitestgehend national verengt geblieben, sowohl hinsichtlich der beteiligten Disziplinen und Wissenschaftler als auch im Hinblick auf die Untersuchungsgegenstände und -ansätze. In der Regel haben sich die deutschen Historiker auf eine nationale Binnenperspektive eingekrümmt. Demgegenüber sind die in den europäischen Nachbarstaaten veröffentlichten Arbeiten kaum rezipiert worden.

Der Band ,,Views from Abroad", der Beiträge zu einer im Juli 2006 in Reading veranstalteten Konferenz vereint, vermittelt erstmals einen breiten Überblick über die neuere Forschung zur DDR in Großbritannien. Hier hat die relativ kleine Gruppe der einschlägig arbeitenden Historiker ebenso wie in Frankreich, wo das Konzept der ,,socio-histoire du politique" ein breites Spektrum geschichts-, politik- und sozial- und geschichtswissenschaftlicher Studien gebündelt hat, umfassende, über die Grenzen der Disziplin hinausreichende Untersuchungsansätze aufgegriffen und weiterentwickelt. Das Buch belegt dabei besonders deutlich die anhaltende Prägekraft der kulturwissenschaftlichen und philologischen Forschungstradition, die sich mit der Etablierung der ,,GDR Studies" in den Siebziger- und Achtzigerjahren herausgebildet hatte.

Jedoch standen Untersuchungen zum zweiten deutschen Staat erhebliche Barrieren - vor allem der Mangel an zuverlässigen Quellen - entgegen, die der Doyen der britischen DDR-Forschung, David Childs, in seinem Beitrag zu Recht hervorhebt. Obgleich diese Restriktionen seit 1990 weitgehend entfallen sind, ist die Historiografie im vereinigten Deutschland lange von den Frontstellungen des Kalten Krieges geprägt geblieben, wie Mary Fulbrook betont. Auch Dennis Tate unterstreicht die langfristigen Kontinuitäten, welche die Produktion und Rezeption autobiografischer Texte (vor allem von Christa Wolf, Günter de Bruyn, Monika Maron und Christoph Hein) über den ,,Literaturstreit" der frühen Neunzigerjahre hinaus bestimmt haben. Insgesamt zeichnen sich die Forschungsüberblicke im ersten Abschnitt des Bandes durch ihre wohltuende Distanz zu den oft einseitig auf Profilierung zielenden Auseinandersetzungen zwischen den deutschen Wissenschaftlern aus.

In der zweiten Sektion sind in dem breiten Spektrum der geschichts- und politikwissenschaftlichen Studien zu einzelnen Themenfeldern besonders die Beiträge weiterführend, die den nationalgeschichtlichen Rahmen sprengen. Diese Erweiterung der Perspektive wird in den Untersuchungen zu den Wahrnehmungen und Beziehungen bzw. Verflechtungen zwischen Großbritannien und der DDR erreicht. Andrew Beattie zeigt darüber hinaus, dass zumindest in den ersten Nachkriegsjahren noch die Sorge um das Verhältnis zum sowjetischen Kriegsverbündeten die Perzeption und politische Entscheidungsfindung britischer Politiker kennzeichnete. So kritisierten sie zwar intern scharf die Praxis der Repression in den Speziallagern, die von der UdSSR in ihrer Besatzungszone eingerichtet worden waren; jedoch erkannten sie gegenüber den Deutschen grundsätzlich die Legitimität der Entnazifizierungspolitik auf der Grundlage der orthodox-marxistischen ,,Antifaschismus"-Doktrin an. Der Wiederaufbau des öffentlichen Gesundheitssystems in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurde in britischen Behörden in Westdeutschland zumindest vorübergehend sogar als Vorbild für das Inselreich wahrgenommen, wie Jessica Reinisch erläutert. Allerdings trat Ernüchterung ein, als deutlich wurde, dass die Zwangsverpflichtung von Ärzten den Personalmangel verschärfte und damit in der SBZ gleichermaßen eine umfassende Entnazifizierung dieser Berufsgruppe verhinderte. Zugleich unterblieb aber auch eine Sowjetisierung.

Das Ausmaß der Überlagerung von Konstellationen, die vielschichtige und sogar widersprüchliche Wahrnehmungen der Prozesse in der SBZ und DDR bedingten, wird auch in zwei Aufsätzen deutlich, die den Beziehungen zwischen Großbritannien und dem zweiten deutschen Staat gewidmet sind. Marianne Howarth argumentiert, dass die Entspannung des Verhältnisses, die in der diplomatischen Anerkennung der DDR durch die britische Regierung 1973 gipfelte, bereits im darauffolgenden Jahr getrübt wurde, als zwei britische Staatsbürger wegen angeblicher Beihilfe zur ,,Republikflucht" verhaftet wurden. Der Kulturaustausch, der in einem Konsularabkommen geregelt werden sollte, geriet daraufhin in den Schatten der Menschenrechtspolitik, die auch mit dem dritten ,,Korb" des KZSE-Abkommens 1975 kräftig aufgewertet wurde. Der ,,Kalte Frieden", den der erste britische Botschafter in Ost-Berlin, Curtis Keeble, im Januar 1976 beklagte, unterband aber keineswegs eine pragmatische Politik zwischen den beiden Staaten, wie Stefan Berger und Normal LaPorte hervorheben. Vielmehr erreichte der Ausbau der offiziellen Beziehungen in den Jahren von 1983 bis 1985 seinen Höhepunkt, und auch der kulturelle Austausch und die Wissenschaftlerkontakte konnten intensiviert werden. Die Spannungen, die dabei zwischen der relativ ausgleichenden britischen und der härteren amerikanischen Politik entstanden, lösten sich erst ab 1985, als sich die SED-Führung der Reformpolitik verweigerte, die der sowjetische Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow aufgenommen hatte. Insgesamt zeigen diese Beiträge, dass Untersuchungen zum Verhältnis zwischen der DDR und Großbritannien durchweg in ein komplexes Geflecht multilateraler Beziehungen und Verflechtungen eingebettet werden müssen. Zudem waren die diplomatischen Initiativen eng mit dem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Austausch verflochten.

Vorrangig der Binnenperspektive verpflichtet sind demgegenüber die - für sich durchaus instruktiven - Studie von Mike Dennis zu den vietnamesischen Vertragsarbeitern in der DDR in den Achtzigerjahren und die Untersuchung von Jeanette Madarász zur ,,alternativen Frauenbewegung" in demselben Jahrzehnt. Die letzte Phase der Geschichte des ostdeutschen Staatssozialismus behandeln auch die Aufsätze von Anne Saunders zum Identitätsbruch der in den Achtzigerjahren in der DDR aufgewachsenen ,,Zonenkinder" in der ,,Wende" von 1989/90 und von Peter Barker zur sorbischen Kulturorganisation ,,Domowina", deren Vertretungsanspruch im Zerfall der DDR zwar in Frage gestellt, aber nicht gebrochen wurde. Mark Allinson weist in seinem Beitrag zudem nach, dass die Funktionäre bei der Wirtschaftsplanung für die Jahre 1977 und 1978 keineswegs dogmatisch und nach starren Regeln, sondern kontinuierlich pragmatisch und oft spontan entschieden.

Die Beiträge zur Entwicklung von Film und Literatur im dritten Abschnitt des Bandes konzentrieren sich auf das Verhältnis von Herrschenden und ,,Kulturschaffenden". David Clarke rekonstruiert den Wandel der Autorenausbildung in der DDR anhand des Literaturinstituts ,,Johannes R. Becher", Laura Bradley kontrastiert die öffentliche Unterstützung des Mauerbaus 1961 durch die Beschäftigten Ost-Berliner Theater mit den doppeldeutigen Aussagen in ihren Aufführungen, und Beate Müller plädiert am Beispiel der Überwachung von Jurek Becker für eine präzise, methodisch ausgefeilte Textanalyse der Berichte, die das Ministerium für Staatssicherheit anfertigte. Renate Rechtien und Sara Jones zeigen die Konflikte in den alltagsweltlichen Bezügen auf, die sich in der Prosa von Christa Wolf bzw. in Stefan Heyms Roman ,,Lassalle" finden. Die Brechungen, die der permanente Zwang zu Kompromissen in der DDR und die Anpassung im schwierigen Umbruch von 1989/90 herbeiführten, zeichnen auch Rosemary Scott, Seán Allan und Daniela Berghahn in ihren Studien zum Kino nach.

Insgesamt dokumentiert der Band die breite, multidisziplinäre Ausrichtung der neueren britischen Forschung zur DDR. Allerdings muss für diesen unbestreitbaren Vorzug auch ein Preis entrichtet werden: die mangelnde analytische Fokussierung. Über die allgemeine kulturwissenschaftliche Orientierung hinaus bietet Mary Fulbrook mit ihrem Konzept der ,,Teilnahmediktatur" und dem Bild des ,,Bienenwabenstaates" (S. 44) zwar diskussionswürdige Vorschläge für eine Gesamtinterpretation der DDR an; damit trägt sie aber letztlich selber zu dem ,,Begriffsprägungs- und Etikettenspiel" (S. 42) bei, das sie zu Recht kritisiert. Jedoch überwindet die vergleichende und beziehungsgeschichtliche Perspektive, die Fulbrook fordert und auch viele Beiträge zu dem Band auszeichnet, die Fixierung auf die DDR oder die beiden deutschen Staaten, die in der deutschen Forschung immer noch vorherrscht.

Arnd Bauerkämper, Berlin


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 28. Januar 2008