ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

E. Peter Hennock, The Origin of the Welfare State in England and Germany, 1850-1914. Social Policies Compared, Cambridge University Press, Cambridge 2007, 381 S., kart., £ 55.

Peter Hennock hat eine Publikation vorgelegt, die seine seit den 1970/80er-Jahren publizierten, vergleichenden Studien zur Sozialstaatsgeschichte Großbritanniens und Deutschlands abrundet. Zwar hat Hennock seinen Plan aufgegeben, eine in mehreren Bänden angelegte Sozialstaatsgeschichte beider Länder für die Zeit bis in die 1970er-Jahre zu schreiben, aber auch das vorliegende, ursprünglich als erster Band dieses Vorhabens vorgesehene Buch zur Gründungs- und frühen Formierungsphase der beiden Sozialstaatssysteme kann Standardwerkcharakter beanspruchen. Dabei verzichtet Hennock auf überbordendes methodisch-theoretisches Beiwerk respektive einen entsprechenden Überbau. Den sozialwissenschaftlich orientierten, typologisierenden Studien Peter Floras oder Gösta Esping-Andersens der 1980er- und frühen 1990er-Jahre eine weitere hinzuzufügen, war und ist seine Sache nicht. Seine Methode und seine Darstellungsweise sind durchaus konservativ: Im Vergleich die Erkenntnisse über die unterschiedlichen Entwicklungslinien der zu vergleichenden nationalen Systeme zu schärfen, dies ist sein Anliegen. Er verzichtet hierzu auf Archivrecherchen und wertet die vorliegende Literatur, gedruckte Quellen und die für den deutschen Bereich umfassenden Quellensammlungen zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik (1867-1914) aus. Für den britischen Bereich fehlen entsprechende Editionen. Angesichts dieses methodischen Zuschnitts und dieser Materialbasis sind keine wirklich neuen Erkenntnisse zu erwarten. Auch in der Absteckung des sozialpolitischen Terrains, das er behandeln will, beschränkt sich Hennock mit Verweis auf arbeitsökonomische Grenzen auf die eher klassischen Bereiche des Arbeitsschutzes und der unterschiedlichen Versorgungs- und Versicherungssysteme im Bereich der zentralen Risiken abhängig Beschäftigter. Gleichwohl präferiert Hennock einen weitgespannten Sozialstaatsbegriff, in dessen Rahmen die Gesundheits- und Wohnungsbaupolitik und die Verrechtlichung der industriellen Arbeitsbeziehungen bedeutsame konstituierende Faktoren darstellen.

Hennock zielt auf ein wissenschaftliches Publikum, das mit der deutschen Sozialstaatsgeschichte weniger vertraut ist. Dementsprechend legt er ein stärkeres Gewicht auf die detaillierte Beschreibung der Maßnahmen und Entscheidungen im Deutschen Reich. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Leserkreis, der eher in umgekehrter Richtung Defizite bei den Kenntnissen zur englischen Geschichte aufweist, das Buch nicht mit Gewinn lesen könnte. Hennock beginnt seine Darstellung mit der Entwicklung der Armenfürsorge - und dies nicht nur für den englischen Bereich, sondern auch für den deutschen bzw. preußischen. Im britischen Fall ist die Entwicklung der Armenfürsorge, insbesondere deren Reform im Rahmen des ,,Poor Law" von 1834, als ein wesentlicher Gründungspfad des Welfare State allgemein anerkannt. Aber auch für die deutsche Entwicklung ist diese Säule öffentlicher Sozialpolitik von Bedeutung, dies nicht zuletzt deshalb, weil mit der Einführung obligatorischer Sozialversicherungen auf nationaler Ebene seit den 1880er-Jahren die Armenfürsorge nicht einfach verschwand. Angesichts der begrenzten Leistungsfähigkeit der Versicherungen war die (komplementäre) Inanspruchnahme von Fürsorgeleistungen zudem auch existenziell notwendig und stieg sogar in verschiedenen Großstädten an. Hennock zeigt hier interessante Bezugspunkte zwischen beiden Systemen (,,Fürsorge" und ,,Versicherung") auf. So habe die Krankenversicherung in Deutschland nicht zuletzt als Stimulus für bessere und kostenintensivere Behandlungs- und Medikamentierungsmethoden gewirkt und damit auch eine stärkere Belastung der Armenfürsorge zur Folge gehabt, die die Kosten für die Nichtversicherten trug. Dass die Zusammenhänge zwischen Armenfürsorge und national organisierten Versicherungssystemen in beiden Ländern jedoch eine sehr unterschiedliche Bedeutung für die Entscheidungen für Einführung und Ausgestaltung eben jener Versicherungssysteme besaßen, macht Hennock ebenso deutlich: Während für den britischen Bereich die Entlastung der Armenfürsorge ein gewichtiger Movens für die Organisierung von Pflichtversicherungssystemen blieb, hatte dies im deutschen Fall kaum Relevanz. Nicht Reduzierung der Fürsorgekosten, sondern eine die industrielle Expansion begleitende Steuerung der ebenfalls expandierenden Risiken waren zusammen mit der erhofften Loyalität seitens der Arbeiterschaft für das Kaiserreich die ausschlaggebenden Entscheidungsfaktoren. Während im englischen Falle der Druck ,,von unten", sprich der Gewerkschaftsbewegung bedeutend war, war im deutschen die Initiative aus paternalistischem, autoritärem Staatsverständnis heraus entscheidend. Zu Recht vermerkt Hennock für die Entstehungsphase in Deutschland, dass ,,nicht alles mit Bismarck" begann, sondern in Preußen auf lokaler Ebene schon seit den 1860/70er-Jahren Krankenkassen bestanden. Angesichts deren begrenzter Effizienz im Hinblick auf die Versichertenzahl und die Leistungsstandards sollte man deren Bedeutung jedoch nicht überschätzen.

Hennock handelt die zentralen Existenzrisiken und die unterschiedlichen Herangehensweisen der beiden Länder in drei großen Kapiteln ab: Arbeitsunfälle und die Fragen von Arbeitsschutz, Fabrikgesetzgebung, sowie die besonders kontrovers diskutierte Einführung und Entwicklung der Unfallversicherung. Es folgen zusammengefasst in dem umfangreichsten Kapitel die Entwicklungen staatlicher Sozialpolitik auf den Feldern Krankheit, Invalidität und Alter und in einem weiteren dann die britische und die deutsche Politik bezüglich der Arbeitslosigkeit.

Der Autor kommt zur nicht überraschenden Schlussfolgerung, dass die Prinzipien einer ,,national insurence" für Großbritannien eine deutlich geringere Rolle als für das Deutsche Reich gespielt hätten. In einem Epilog, der Reflexionen über die anschließenden Entwicklungen in beiden Ländern bis in die Gegenwart einschließt, stellt er nicht zuletzt die beiden Alternativen eines steuerfinanzierten und eines durch Versicherungen abgestützten sozialstaatlichen Systems gegenüber, um mit dem Satz zu schließen, dass diese Unterschiede in jener Gründungsphase begründet seien und uns bis heute begleiten.

So eingehend Hennock die diversen Systeme der Versorgung und Versicherung beschreibt, eine Erkenntnisebene bleibt völlig außen vor: die transnationalen Debatten über die konkurrierenden Ansätze der sich entwickelnden Sozialstaatlichkeit, die in jenen Jahrzehnten in Großbritannien wie im Deutschen Reich geführt wurden. Für den angelsächsischen wie den europäischen Raum generell waren hier Diskurse nicht nur über das deutsche System, sondern beispielsweise auch über die sozialstaatlichen Experimente in Australien oder Neuseeland bedeutsam. Wer sich detailliert über den Beginn der beiden Sozialstaaten Großbritannien und Deutsches Reich informieren will, der ist mit Hennocks Vergleichsstudie sehr gut bedient, wer über den britisch-deutschen Tellerrand hinausblicken will, muss sich um andere Literatur bemühen.

Detlev Brunner, Berlin/Rostock


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