Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Martin Lengwiler, Risikopolitik im Sozialstaat. Die schweizerische Unfallversicherung 1870-1970, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2006, XIV+445 S., geb., 54,90 €.
,,Aus allen Fenstern fallen Kinder" kritzelte der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck schon 1880 auf den ihm vorgelegten Entwurf einer allgemeinen Gefahrenschutzverordnung für Fabriken. Die Verordnung wurde nicht erlassen, allerdings sorgte Bismarck für die Etablierung einer gesetzlichen Unfallversicherung, deren Berufsgenossenschaften ab 1885 auch für den betrieblichen Gefahrenschutz zu sorgen hatten.
Trotz ihrer Vorreiterrolle beim Arbeiterschutz hat die Schweiz dagegen erst 1918 und somit Jahrzehnte später als in Deutschland eine gesetzliche Unfallversicherung geschaffen. Der Historiker Martin Lengwiler untersucht in seiner Züricher Habilitationsschrift Entstehung und Praxis der Schweizer Unfallversicherung. Er analysiert hierbei insbesondere die Bedeutung wissenschaftlicher Expertise und die Entwicklung der Risikoforschung. Seine Studie ist ein wichtiger Beitrag zur Verbindung von Sozial- und Wissenschaftsgeschichte. Das Buch verfolgt die Risikoforschung von der Planung der staatlichen Unfallversicherung bis weit in die Nachkriegszeit hinein. Dabei werden bezüglich der Versicherungsmathematik, der Arbeitsmedizin und der Arbeitspsychologie auch Entwicklungen in Europa und den USA geschildert.
In der Schweiz entstand insgesamt ein deutlich anderes System der sozialen Sicherung als in Deutschland. Auch in der Unfallversicherung überwiegen die Unterschiede. Im Gegensatz zum österreichischen Gesetz von 1887 finden sich in der Schweiz eher wenig unmittelbare Bezüge auf die deutsche Unfallversicherungsgesetzgebung. Die Schweizer Unfallversicherung umfasst nicht nur Arbeitsunfälle, sondern auch außerhalb des Arbeitslebens liegende Freizeitunfälle. Auch der organisatorische Aufbau mit der einheitlichen Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) ist weitgehend anders. Die Schweiz kennt keine Berufsgenossenschaften, die in Deutschland diesen Versicherungszweig bis heute bestimmen. Ähnlichkeiten sind dagegen bei der Finanzierung über Prämientarife und Gefahrenklassen zu finden, wobei in der Schweiz allerdings ein Kapitaldeckungsverfahren besteht, während in Deutschland seit mehr als 120 Jahren mit dem Umlageverfahren gearbeitet wird.
Im ersten Teil analysiert der Autor ausführlich die ,,Entstehungsphase" (1870 bis 1918). Die unmittelbaren Arbeiten an der Schweizer Unfallversicherung begannen bald nach deren Einführung in Deutschland. 1890 wurde in einer Volksabstimmung ein entsprechender Verfassungsauftrag noch angenommen, das konkrete Gesetz scheiterte dann 1900 zunächst an einer Volksabstimmung. Erst zwölf Jahre später gelang ein zweiter Anlauf. Im Jahr 1918 trat dann in der Schweiz eine obligatorische gesetzliche Unfallversicherung in Kraft.
Lengwiler schildert eingehend die Auseinandersetzungen der zeitgenössischen Versicherungsmathematik (,,Kalkulationsdebatte") und das Wechselspiel zwischen der Entwicklung des Versicherungswesens und der statistischen Wissenschaft. In den Jahren 1888 bis 1891 führte man in der Schweiz eine aufwändige statistische Unfallerhebung durch. Eine Kommission aus Politikern und Versicherungsexperten bereitete parallel dazu das Gesetz vor. Die konkrete Entstehungsgeschichte des Gesetzes ergänzt der Autor durch ein Kapitel über die Entwicklung der Sozialwissenschaften in ihrem Verhältnis zur Verwissenschaftlichung des Versicherungswesens.
Der zweite Teil der Studie umfasst mit der ,,Konstitutionsphase" die Jahre 1918 bis 1945. Die Schweizer Unfallversicherung und ihre paritätisch besetzte Unfallversicherungsanstalt waren zunächst nicht sonderlich populär. Insbesondere von Arbeitgeberseite wurden die hohen Prämientarife moniert und die beim Kapitaldeckungsverfahren notwendigerweise angesammelten Gelder als ,,Gewinne" denunziert. Tatsächlich kalkulierte die SUVA zunächst recht vorsichtig und musste wiederholt ihre eigenen Prognosen revidieren, was langfristig zur Senkung der Beiträge führte. Ohne dass sich etwas änderte, wurden auch in der Schweiz Vor- und Nachteile von Kapitaldeckungs- bzw. Umlageverfahren in nicht enden wollenden Debatten diskutiert. In Bezug auf das ebenfalls zunächst nicht optimale Verhältnis zur Arbeitnehmerschaft trug zur Akzeptanz wesentlich bei, dass die zweite Generation des Leitungspersonals der SUVA als arbeiterfreundlich galt. Ein tief gehender Dauerkonflikt entstand hingegen zwischen der SUVA und der freien Ärzteschaft, der von der Unfallverwaltung unangemessenes ,,Überpraktizieren" vorgeworfen wurde. Eine ,,schwarze Liste" teurer Ärzte brachte die Standesvertretung in Rage. Der Konflikt konnte nur mühsam durch Einsetzung einer Untersuchungskommission beigelegt werden. Insgesamt galt jedoch: Je länger die Unfallversicherung bestand, desto mehr wurde sie akzeptiert.
Nach 1930 und insbesondere im Zweiten Weltkrieg war die präventive Unfallverhütung weit gehend zusammengebrochen. Selbst in der nicht in Kriegshandlungen verwickelten Schweiz schnellten insbesondere bei den Festungsbauten die Zahlen der Arbeitsunfälle dramatisch in die Höhe. Dies änderte sich nach Kriegsende schnell. Lengwiler spricht in seinem dritten Teil (die ,,Konsolidierungsphase" 1945 bis 1970) vom ,,goldenen Zeitalter der Risikoforschung" mit einer nachhaltigen Ausbreitung des Präventionsgedankens (S. 309). Den auch in der Schweiz feststellbaren langfristigen Trend des Rückgangs der Arbeitsunfälle sieht der Autor hauptsächlich in einem erhöhten Sicherheitsbewusstsein bzw. in Änderungen am einzelnen Arbeitsplatz begründet, weniger im allgemeinen Strukturwandel der Arbeitswelt.
Sehr ausführlich analysiert Lengwiler in zwei recht spannenden Kapiteln die Diagnose- und Entschädigungspraxis der Silikose, der schwerwiegendsten Berufskrankheit des 20. Jahrhunderts. Der Autor konnte hierfür auch eine beschränkte (allerdings nicht repräsentative) Anzahl personenbezogener Fallakten auswerten, die zum Teil auch die Sicht der Betroffenen wiedergeben. Von besonderem Interesse ist hierbei, dass die SUVA bei den schwierig zu diagnostizierenden - und mithin oft umstrittenen - Schädigungen im Anfangszustand auch ein präventives Arbeitsverbot für einen Arbeiter aussprechen konnte, ohne jedoch eine Entschädigungsrente zahlen zu müssen. Die verhängten Arbeitsverbote wurden im Übrigen durch Arbeitsplatzwechsel oft umgangen.
,,Lediglich aus Vorwitz" habe ein eigentlich unbefugter Arbeiter eine Maschine in Bewegung gesetzt. Dabei wurde er ,,vom Schwungrad erfasst und ihm der Kopf vom Rumpfe getrennt". Unter der Überschrift ,,Warnung an sämtliche Arbeiter" wurde dies 1889 von der Rheinisch-Westfälischen Hütten- und Walzwerks-Berufsgenossenschaft auf einem Plakat bekannt gemacht. Damit waren auf dem wohl frühesten Unfallverhütungsplakat der Geschichte zwei wichtige Muster späterer Unfallverhütungsbilder vorgegeben. Möglichst schockierende Texte und Abbildungen sollten aufrütteln und abschrecken. Gleichzeitig machte man den ,,Leichtsinn" der Arbeiter für die Unfälle verantwortlich. In Deutschland wurden die Unfallverhütungsplakate schon während der Weimarer Republik ein viel genutztes Mittel. Die SUVA hielt indessen noch wenig von den anderswo so beliebten abschreckenden Plakaten, deren Wirksamkeit bestritten wurde. Man setzte eher auf die strukturelle Änderung unfallgefährdeter Arbeitsplätze. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzte die SUVA die Plakate dann jedoch umso intensiver, allerdings mit dem interessanten Unterschied, dass nun nicht mehr abgehackte Körperteile und von Leitern stürzende Arbeiter zu sehen waren, sondern emotionalisierende, die allgemeine Sicherheit betonende Motive. Leider hat der Verlag ein deutsches Unfallverhütungsplakat auf das Cover gesetzt und keines aus der Schweiz.
Ärgerlich bleibt, dass Lengwiler zwar häufig auf Deutschland verweist, aber das dortige System der Unfallversicherung und die Literatur über diese zu wenig kennt. Daraus ergeben sich eine Reihe sachlicher Fehler wie die Behauptung, die deutsche Unfallversicherung arbeite mit dem Kapitaldeckungsverfahren (S. 140), die Bismarck'sche Unfallversicherung habe Berufskrankheiten erfasst (S. 148, 252), was erst 1925 geschah, und schließlich, dass in Deutschland die Berufsgenossenschaften paritätisch besetzt gewesen seien (S. 299), was jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt wurde.
Trotz dieser kleineren Monita ist das Buch ein wichtiger Baustein zur Geschichte der schweizerischen Sozialpolitik im Allgemeinen und zur Unfallversicherung im Besonderen.
Wolfgang Ayaß, Kassel