ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Wolfgang Paul Strassmann, Die Strassmanns. Schicksale einer deutsch-jüdischen Familie über zwei Jahrhunderte, Campus Verlag, Frankfurt/Main/New York 2006, 376 S., kart., 24,90 €.

,,Großvater unterrichtete mich leidenschaftlich über Geschichte - über Griechen und Römer, italienische Fürsten und Künstler, Friedrich den Großen - und ganz besonders über die fünf Strassmann-Brüder, die von irgendwoher nach Berlin gekommen und hier unglaublich berühmt und bedeutend geworden waren. Mit ihren langen Bärten und seltsamen Kragen konnte ich mir jedoch nicht vorstellen, wie irgend jemand sie hatte ernst nehmen können. [...] Und dann stellte sich heraus, dass sie alle Juden gewesen waren; und ich verstand damals nicht, was das bedeutete." Die Erzählungen des Großvaters Paul Ferdinand Strassmann, denen der Autor als kleiner Junge gespannt lauschte, leiten ein in eine Familienchronik, die 200 Jahre deutsch-jüdischer Geschichte mit allen Höhen und schrecklichen Tiefen umfasst.

Wolfgang Paul Strassmann, 1937 mit der Familie aus Berlin in die USA emigriert, Professor für Volkswirtschaft an der Michigan State University, begann nach seiner Emeritierung mit den Recherchen für dieses Buch. Ein reicher Quellenfundus an privaten Briefen, Fotos, Tagebucheintragungen, unpublizierten Memoiren und Notizen aus zwei Jahrhunderten bildete den Grundstock. In einem mehrjährigen Forschungsprojekt kamen Quellen zur Medizin- und Sozialgeschichte Preußens und Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, zu Verfolgung, Exil und Neuanfang in den USA hinzu. Eine Folie bildet immer wieder die Geschichte Berlins, die mit den Geschicken der Strassmanns vielfältig verknüpft ist.

Um 1840 kamen die fünf Strassmann-Brüder im preußischen Berlin an, wo sie später als Ärzte, Gerichtsmediziner und Sozialpolitiker Stadtgeschichte schreiben sollten. Sie alle waren Enkelsöhne von Schmuhl Molower, der als Tuchhändler im polnischen Rawicz des ausgehenden 18. Jahrhunderts den Namen Strassmann angenommen hatte. Schmuhls Sohn Heiman brach mit jüdischen Traditionen, gab seinen Kindern die Namen deutscher Dichter und Denker und schickte sie auf eine christliche Schule, um sie auf ein mögliches Studium in der Großstadt vorzubereiten.

In Berlin rief Wolfgang Strassmann in der 1848er-Revolution die Republik aus. Ein Dienstmädchen rettete sein Leben vor der ,,Soldateska", in dem sie den ,,pulvergeschwärzten, schönen jungen Mann in ihrem eigenen Bett" versteckte (S. 49). Aus der Stadt verbannt und zurückgekehrt, gehörte Wolfgang Strassmann ab 1863 der Berliner Stadtverordnetenversammlung an. Zwölf Jahre lang, bis zu seinem Tod im Jahre 1885, stand er ihr sogar vor. Zum ersten Mal gelang es hier einem jüdischen Politiker in Deutschland - als ein Vorgänger des SPD-Politikers Paul Singer (1) - ein derart hohes politisches Wahlamt zu erringen. Eines der größten Projekte des Mediziners und Sozialpolitikers Wolfgang Strassmann waren die gemeinsam mit Rudolf Virchow geplanten Berliner 'Rieselfelder' - ein Projekt, das die Berliner Abwässer klärte und in Bezug auf Umwelt- und Gesundheitsvorsorge seiner Zeit weit voraus war (S. 56f.). Auch Wolfgangs Bruder Ferdinand gehörte zu den Reformern des Berliner Gesundheitswesens. Jüdische Ärzte (im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts stellten sie die Hälfte aller Ärzte), ihre medizinischen Neuerungen und ihr sozialpolitisches Engagement sind eines der Metathemen des Buchs. In der nächsten Generation schrieb Paul Ferdinand Strassmann, mit seiner Frau Hedwig zum Protestantismus konvertiert, ebenfalls Medizingeschichte. In seiner Klinik in der Berliner Schumannstraße kamen bis zur Schließung 1935 mehr als 15.000 Kinder zur Welt und es wurden 4.000 junge Ärzte ausgebildet. Der 1858 geborene Fritz Strassmann war ein Pionier der forensischen Medizin. 1904 gründete er die bis heute bestehende ,,Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin".

Öffentliches Wirken deutscher Juden bildete ein erstes Angriffsziel für den aufkeimenden Antisemitismus. Wolfgang Strassmann machte bittere Erfahrungen mit der Bewegung des Hofpredigers Adolf Stoecker, der auf einer Massenversammlung 1883 öffentlich wünschte, die antijüdische Bewegung werde ,,Herrn Strassmann mit seinem ganzen Stadtverordnetenvorsteheramt zermalmen" (S. 60). In den großen Kriegen Preußens und Deutschlands von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zum Ersten Weltkrieg erfüllten die Strassmanns ihre patriotischen Pflichten. Der Erste Weltkrieg sah sie an vorderster Front und mit Eisernem Kreuz ausgezeichnet. Paul versorgte die Verwundeten, sein Sohn Hellmuth fiel 1916 an der Somme.

Schon in den ersten Generationen gab es selbstbewusste Frauen in der Familie Strassmann. Heimans Frau Judith reiste von Rawicz aus über Land zu den großen Messen in Breslau, um Tuch einzukaufen. Später eröffnete sie ein eigenes Geschäft in der nächstgrößeren Stadt Lissa. Heimans und Judiths Tochter Bertha gehörtezu den besten Schülern ihrer Klasse. Antonie, Paul Ferdinands Tochter, eroberte in den 1920er-Jahren als Schauspielerin die Bühnen und lotete in sportlichen Höchstleistungen ihre Grenzen aus. Bei Antonies Ankunft in Amerika 1930 titelte die Tageszeitung ,,New York Telegram": ,,Eine Fliegerin, Schauspielerin, Schriftstellerin und Rennfahrerin: Deutsche Frau sagt, sie hat für alles Zeit." 1932 wanderte Antonie endgültig in die USA aus und unterstützte von dort aus später viele deutsche Juden bei der Emigration. Bevor sie als Geschäftsfrau die Fliegerei aufgab, überquerte sie noch einmal an Bord eines Zeppelins den Südatlantik, um anschließend mit ihrer Sportmaschine die gesamte Küste Brasiliens abzufliegen. Später versuchte die Gestapo vergeblich, Antonie aus New York zu entführen, weil internes Wissen um Patent- und Lizenzverträge zwischen Deutschland und den USA bei ihr vermutet wurde.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten bedeutete auch für die Familie Strassmann den Beginn von Ausgrenzung und Raub, Vertreibung und Mord. Viele der Familienangehörigen emigrierten in die USA, einige in die Schweiz oder nach Südamerika. Andere Familienmitglieder sahen den letzten Ausweg vor der Deportation im Suizid. Ein Klinikarzt, dem Paul Ferdinand Strassmann vertraut hatte, denunzierte ihn im Juni 1933 als jüdisch - in der Hoffnung, selbst die Klinik übernehmen zu können. Ein Jahr später schrieb Erwin Strassmann, Oberarzt an der Klinik seines Vaters, resigniert: ,,Wir schämten uns zuzugeben, daß wir schon tot waren, drei Tage lang mit Schließung bedroht. [... ] Was ist das Leben wert ohne Respekt? Nichts." (S. 177) Und Paul vermerkte in seinem Tagebuch: ,,Ja, die jungen Mediziner und Assistenten verkehren nicht mehr beim nichtarischen Chef. Ich verdenke es Ihnen nicht." (S. 181)

Elisabeth Strassmann und ihre Tochter Annemarie überlebten versteckt auf dem Land. Der 1893 geborene Dichter und Mathematiker Reinhold Strassmann wurde in Auschwitz ermordet. Ernst Strassmann (1897-1958) leitete die einzige bis heute erforschte linksliberale Widerstandsgruppe (2) gegen Hitler und überlebte zwei Jahre und acht Monate Gestapo- und Polizeihaft. Im Juni 1945 wurde der inzwischen der SPD beigetretene Jurist von der amerikanischen Militärregierung in die Verwaltung Berlins und später in die Wirtschaftsverwaltung der Bizone berufen. (3)

Ein Epilog schildert die Erfahrungen der in die USA emigrierten Strassmanns mit Besuchsreisen in ihre alte Heimat. Fremdheit und Vertrautheit, Bitterkeit und Hoffnung auf Auseinandersetzung halten sich die Waage. Hier schließt sich kein Kreis. Aber dennoch werden Brücken gebaut. ,,Mit all dem Gerede um mich herum stellten sich keine Erinnerungen ein", beschreibt Autor Wolfgang Paul Strassmann seinen ersten Besuch in Berlin 1952. Aber die freundliche Aufnahme durch eine frühere Oberschwester ließ die ,,Grandezza" des Großvaters lebendig werden und setzt eine liebevolle Schlussnote.

Die Geschichte der Strassmanns handelt von wechselhaften beruflichen und politischen Karrieren, von Identitätssuche und Wertesystemen, den Beziehungen zu Kindern und Enkelkindern, von der Erziehung der Gefühle im bürgerlichen Zeitalter. Eine dichte Beschreibung deutsch-jüdischen Alltags im 19. und 20. Jahrhundert ist hier entstanden. Sanfte Ironie ist ein schönes Stilmittel des Autors, der seine Vorfahren mit Empathie, aber auch mit der Distanz des Wissenschaftlers betrachtet.

Cordula Lissner, Leverkusen

Fußnoten:


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