ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans-Jochen Vogel, Michael Ruck (Hrsg.), Klaus Schönhoven. Arbeiterbewegung und soziale Demokratie in Deutschland - Ausgewählte Beiträge (Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 59), Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2002, geb., 480 S., 37,00 €.

Zu seinem 60. Geburtstag 2002 haben Hans-Jochen Vogel und Michael Ruck nicht nur Klaus Schönhoven mit einer Sammlung seiner zentralen Aufsätze eine Freude gemacht. Ruck hat aus den zahlreichen Arbeiten des Mannheimer Politikwissenschaftlers und Zeithistorikers einen Band zur Geschichte Deutschlands seit der Reichsgründung bis in die Gegenwart zusammengestellt. Darin werden die Bemühungen der sozialdemokratischen Bewegung und ihrer Organisationen beleuchtet, die zur Entwicklung sozialer Demokratie in Deutschland beigetragen haben.

In einer Einleitung schildert Ruck den wissenschaftlichen Lebensweg und das _uvre von Schönhoven. Die Breite seines wissenschaftlichen Interesses, das sich keineswegs nur auf die Arbeiterbewegung konzentriert, zeigt die Auflistung der Publikationen Schönhovens. Und die Beiträge des Sammelbandes machen klar, dass keine Hausgeschichtsschreibung produziert wurde und wird, sondern ein kritischer Sozialwissenschaftler seiner Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, mit der Analyse gesellschaftspolitischer Handlungsmöglichkeiten, gerecht zu werden bemüht ist. Dabei belegen die Beiträge in dem Band einmal mehr, dass politikwissenschaftliche Forschung mit historischer Tiefenschärfe bzw. eine historisch orientierte Politikwissenschaft an Erklärungskraft und Prognosefähigkeit gewinnen kann.

Vor allem zur Gewerkschaftsbewegung hat Schönhoven zahlreiche Studien vorgelegt, besonders auch für die Zeit des Kaiserreichs. Er arbeitet innere Strukturen sowie Denk- und Verhaltensmuster heraus, die auch die verhängnisvollen Irrtümer der Gewerkschaftsbewegung erklären, wie deren Unterstützung des Ersten Weltkriegs oder den defensiven Kurs zu Zeiten der Weimarer Republik. Allerdings werden auch die - oft zu Unrecht - wenig beachteten Erfolge der reformistischen Politik der Gewerkschaften und dabei besonders die Leistungen ihres Unterstützungswesens aufgezeigt. Hier wurde von den Gewerkschaften keineswegs nur ein Versicherungssystem aufgebaut. Die Unterstützungen dienten durchaus offensiver Gewerkschaftspolitik und waren Ausdruck organisierter Solidarität der Arbeiterschaft. Letztlich sieht Schönhoven kaum eine Alternative zu einer reformistischen und kooperativen Politik der Sozialpartnerschaft und der Sozialreform.

In seinen Untersuchungen zur ,,ungefestigten Demokratie" der Weimarer Republik analysiert Schönhoven in zentralen Sammelbandbeiträgen, die Vorbelastungen der ersten Republik und die Denk- und Verhaltensmuster ihrer Gegner von rechts und links. Dabei zeigt er, dass die Sozialdemokratie als nahezu einzige Verteidigerin des demokratischen Staates rasch in die Defensive gedrängt wurde. Allerdings ging sie selbst auch nicht aktiv genug vor und konnte der Verteidigungshaltung entkommen, die in den Legalismus am Ende der Weimarer Republik mündete. Ohne weitere Unterstützung unterlag die Sozialdemokratie, und mit ihr die soziale Demokratie insgesamt, schließlich den Antidemokraten, die den Nationalsozialisten zur Macht verhalfen. Auch über die Zeit der Weimarer Republik finden sich Beiträge gerade zur Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung, zu ihrer pragmatischen Alltagspolitik, ihren wirtschaftsdemokratischen Vorstellungen und Handlungsspielräumen in der krisenhaften Endphase der ersten Republik. Bei der Untersuchung der organisatorischen Probleme der Gewerkschaften in dieser Zeit und der Gründe für den Anbiederungskurs zu Beginn des Dritten Reichs wird offensichtlich, dass ,,auch Gewerkschaften ihre organisatorische Widerstandskraft verlieren, wenn sie ihr politisches und programmatisches Profil preisgeben" (S. 301). Den legalistischen Kurs der Sozialdemokratie, verbunden mit dem entschlossenen Kampf gegen die Republikgegner, hält Schönhoven für alternativlos. Schuld an der Zerstörung der ersten Republik waren nicht die zu schwachen Verteidiger, sondern ihre zahlreichen starken Feinde.

Der dritte Block von Beiträgen unterscheidet sich von den vorherigen, insofern es weniger um die Sozialdemokratie und Gewerkschaften an sich geht, als um deren Einfluss auf die Entwicklung der Bundesrepublik bzw. beider deutschen Staaten. Eindrücklich werden die Verdienste der Sozialdemokratie für den Ausbau des bundesdeutschen Sozialstaats deutlich gemacht. Mit der durch die eigene empirische Forschung gewonnene Sicherheit, kann Schönhoven sozialgeschichtliche Entwicklungslinien und fundierte Einschätzungen herausarbeiten und präsentieren. Damit ist es ihm möglich, kritisch Handlungsspielräume auszumessen und nach strukturellen Bedingungen von Entscheidungsprozessen und Handlungsabläufen zu fragen und dabei der wissenschaftlichen Aufklärung verbunden zu bleiben.

Im Unterschied zu mancher gegenwärtigen Geschichtsschreibung, in der wieder große Männer (und manchmal auch Frauen) die Welt bewegen, zeigen die sozialgeschichtlichen Analysen Schönhovens die Wirkungsmächtigkeit von sozialen Bewegungen und ebenso die nur langsame Veränderbarkeit von Strukturen. Dabei wirken keine anonymen Mächte oder Zwangsläufigkeiten. Ausdrücklich wird immer das komplexe Entscheiden und Handeln von Akteuren unter spezifischen historischen Bedingungen erkennbar gemacht. Die Versuchungen der Anpassung an gegebene Umstände, ein verbaler Radikalismus oder auch revolutionäre Ungeduld und die Gefahr eines Abgleitens in neue autoritäre und unmenschliche Zustände erscheinen als ständige Herausforderungen eines reformistischen Weges zur sozialen Demokratie. Insgesamt macht Schönhoven den Ausbau sozialer Demokratie in Deutschland als zentralen Verdienst der Arbeiterbewegungen sichtbar gegen den verbissenen Widerstand ,kleiner' Oberschichten und gegen reformunwillige, und im Kaiserreich und der Weimarer Republik, antidemokratische Eliten.

Untersuchungen zur Arbeiterbewegung, Sozialdemokratie und zu Gewerkschaften haben gegenwärtig nicht gerade Konjunktur. An den wissenschaftlichen Leistungen Schönhovens ist zu sehen, dass ohne solche Themen Entwicklungen und Perspektiven deutscher Geschichte nicht vollständig zu analysieren sind und wichtige sozialgeschichtliche Erkenntnisse unbeachtet bleiben würden.

Stefan Goch, Gelsenkirchen


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