Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Arin Sharif-Nassab, Über-Lebensgeschichten. Der Holocaust in Krakau - Biographische Studien (Psychoanalyse und Qualitative Sozialforschung, Bd. 1), Studien Verlag, Innsbruck/Wien/Bozen 2005, 224 S., brosch., 24,00 €.
Anhand von drei Biografien von Betroffenen stellt Arin Sharif-Nassab die nationalsozialistische Verfolgung in Krakau und das Nachwirken dieser Erfahrungen im weiteren Leben dar. Die Motivation ist hierbei sehr persönlich, der Anspruch ,,ein interdisziplinärer, der sich zwischen Historie und Psychologie bewegt" (S. 11). Der Autor war als österreichischer Zivildienstleistender 14 Monate lang im Krakauer Zentrum für jüdische Kultur tätig, kam dort mit dem Ghetto im Stadtteil Podgórze und dem Konzentrationslager Płaszów sowie dem heutigen Umgang damit in vielfacher Weise in Berührung und hat die drei Interviewpartner in dieser Zeit kennengelernt. Im 'narrativen Interview' mit ihnen schafft er sich die Hauptquellen, um die Perspektive der Verfolgten ,,darzustellen und unter psychologischen Gesichtspunkten zu analysieren" (S. 11). Weitere Quellen, wie mitgeschnittene Führungen, Filme und Erinnerungen, bilden dabei eine Ergänzung.
Die vorangestellte historische Einführung hebt sich insofern positiv von vielen deutschsprachigen Untersuchungen ab, als dass die polnische Literatur eingehend rezipiert wurde, was beim ansonsten recht wenig erforschten Ghetto in Krakau auch notwendig ist. Allerdings bleibt Sharif-Nassab hier häufig zu knapp und wird damit ungenau. So umfasst das Kapitel ,,Die jüdische Bevölkerungsstruktur in der Stadt Krakau" nicht einmal eine Seite, die Jüdische Kampforganisation ŻOB erscheint in der Darstellung als reine Krakauer Organisation und Julian Scherner war nicht der Höhere SS- und Polizeiführer des Distrikts, sondern der SS- und Polizeiführer, um kleinere Beispiele zu nennen. Im weiteren Verlauf des Buches irritiert es, dass der Autor sich auf die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung Krakaus beschränkt und der Untertitel seines Buches auch dezidiert vom ,,Holocaust in Krakau" spricht: Nur zwei der drei später vorgestellten Interviewpartner sind verfolgt worden, weil sie Juden sind, bei einem lag der Fall anders, wie in der Vorstellung später erläutert wird: ,,Vorneweg soll nur angemerkt werden, dass sich Herr Z. in einem wesentlichen, für die Veröffentlichung ungünstigeren Punkt von den anderen Referenzpersonen unterscheidet. Er ist kein Jude, sondern Katholik" (S. 113). Das ist wirklich ärgerlich: Wenn schon von den ohnehin nur drei Fallbeispielen einer kein Jude ist, warum wird dann nicht von Anfang an der Untersuchungsgegenstand anders definiert und die Schilderung der Verfolgung von Juden und Polen in Krakau in den Fokus gerückt? Dann hätte das 'Pole-Sein' des Zeitzeugen auch nicht als ,,ungünstig" bezeichnet werden müssen. Stattdessen wird mitten in der Schilderung der Erfahrungen des Zeitzeugen ein kleiner Exkurs über polnische Erinnerung an die deutsche Gewaltherrschaft gestellt.
Den historischen folgen psychologische Vorüberlegungen als weitere Einleitung zum Hauptteil. Sharif-Nassab fordert hierbei eine ,,Entpathologisierung" (S. 32) der Überlebenden, da die Handlungen der Täter krankhaft gewesen seien, nicht die Reaktionen der Opfer. Er stellt Überlegungen zum Begriff des Traumas an und betont die ,,Einmaligkeit dieser Art der Traumatisierung" (S. 36). Es geht um Verdrängung und die Rolle der Umwelt bei der Auflösung des Traumas, um ,,Child-Survivors" und deren spezifische psychische Situation und vor allem auch um die Rolle des Erinnerns und Erzählens als notwendiges ,,Nachholen dieser Trauerarbeit, ein Zulassen des Schmerzes" (S. 56). In seinen ,,Anmerkungen zur Methodik" weist Sharif-Nassab wiederum auf seinen persönlichen Ansatz hin. Seine Rolle in dem Ganzen zieht sich gleichsam wie ein roter Faden durch die Untersuchung. Entscheidend für das Verständnis seiner Darstellung der drei Fallbeispiele ist hier, dass es ihm nicht so sehr um die reale Biografie der Personen geht, sondern um ,,deren Repräsentanz in der Erinnerung unter ganz bestimmten interaktiven Bedingungen (Interview)" (S. 64).
So erscheint es folgerichtig, dass die Interviewsituation, die Vorgeschichte des Gesprächs und die jeweilige Interaktion zwischen Sharif-Nassab und dem Befragten ausführlich geschildert werden. Alle drei legten Wert darauf, anonym zu bleiben. So lesen wir die ,,Geschichte des Herrn B.", die ,,Geschichte des Herrn Z." und die ,,Geschichte des Herrn M.", was insofern verwundert, als zwei der Interviewpartner in Krakau von ihrer Verfolgung berichten und in Filmen und Büchern darüber Zeugnis abgelegt haben.
Die Interpretation der eigenen Rolle des Interviewers und seiner komplexen Beziehungen zu den Gesprächspartnern ist spannend und verdeutlicht an vielen Stellen, wie schwierig solche Gespräche sein können. Dementsprechend ist an einer Stelle von Aggression und von Schreien die Rede. Und trotzdem hätte man sich in der Darstellung manchmal etwas mehr Zurückhaltung vom Autoren gewünscht, wenn sie droht ins Banale abzugleiten, so etwa in Feststellungen wie: ,,Ich selbst bin mit Herrn B. seit einigen Jahren befreundet und habe gelernt, seine zumeist sehr reflektierten, aber unnachgiebig vertretenden Einsichten zu akzeptieren, ohne ihm stets zuzustimmen" (S. 72). Auch in der Beschreibung der so genannten Memory Tours, die Herr B. durch Krakau macht, wird dies deutlich: ,,Erst am nächsten Morgen mahnen Muskelkater und schlechte Träume an den eigentlichen Gehalt jener intensiven Erfahrung, der man tags zuvor teilhaftig wurde" (S. 73f.). Oder: ,,[...] Glück stand ihm dabei aber sicherlich zur Seite, denn es hätte auch anders kommen können" (S. 133).
Bis auf derartige störende Kommentare überzeugen die Analysen der Erinnerungsprozesse und die Art des Erzählens weit gehend: Der Autor zeigt deutlich, wie sich die persönliche Geschichte Einzelner mit dem größeren Geschehen verwebt und wie vor allem der Sich-Erinnernde sein Schicksal in einen sinnstiftenden Zusammenhang einordnen muss. Das Ausmaß der Belastungen, die subjektiven Leiderfahrungen, die hier geschildert werden, holen das abstrakte Ereignis auf eine menschliche Ebene, die den Leser berührt. Anhand der Geschichte von Herrn Z., dem polnischen Zeitzeugen, wird der Schock über die Konfrontation mit Gewalt und Terror sehr anschaulich. Ohne ein Vergehen, ohne sich gefährdet zu fühlen, wurde Herr Z. im Lager Płaszów inhaftiert. Seine Haft dauerte nur acht Tage, doch war gerade in dieser scheinbaren Nichtigkeit auch seine Unfähigkeit begründet, über den Schock, den ,,biographischen Riss" (S. 126), später zu sprechen. Herr Z. schildert im Interview: ,,[...] der Übergang von der Freiheit in die Gefangenschaft und die totale Ungewissheit darüber, was mich erwartet. Von den Lagern wusste ich ja [...]. Aber, dass dort solch eine Hoffnungslosigkeit herrschte, dass plötzlich alles endete [flüsternd]. Die Trennung, [...] dort ist die Welt und hier ist nichts, hier ist die Hoffnungslosigkeit. Warten? Warten auf was? Nichts war mehr zu erwarten. Ich wartete auf nichts mehr. Nur noch auf das Schlimmste. Und das war das Schlimmste, nämlich das Bewusstsein, [schwer atmend] dass man nirgendwo mehr hingehen wird." (S. 127). Die Untersuchung von Arin Sharif-Nassab ist da am stärksten, wo er seinen Referenzpersonen viel Raum gibt, ihre Geschichte zu erzählen, um daran aufzuzeigen, wie zerstörerisch die Erfahrungen auch nach 1945 noch waren, wie schwer es für die Betroffenen war, sie in ihre Biografie so zu integrieren, dass sie heute in der Lage sind, darüber zu berichten. Durch diese Berichte bzw. das Sprechen über das Erlebte können die traumatischen Erfahrungen gleichsam geordnet und in eine Form gebracht werden.
Andrea Löw, Gießen