ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Alessandro Triulzi/Maria Cristina Ercolessi (Hrsg.), State, Power and New Political Actors in Postcolonial Africa (Annali della Fondazione Giangiacomo Feltrinelli, Anno Trentottesimo/2002), Feltrinelli Editore, Mailand 2004, xliv+283 S., geb., 60,00 €.

Der Staat in Afrika ist ein Dauerthema. Hier lagern sich wichtige und folgenreiche Theoreme, aber auch Handlungsanweisungen an. Gegenwärtig spielt das Konzept der schwachen oder zusammengebrochenen Staaten neben dem Theorem des Neopatrimonialismus eine herausragende Rolle und dürfte zugleich in der Politikberatung am folgenreichsten sein. Ferner gilt Afrika derzeit als der Krisenkontinent schlechthin, im Gegensatz zu hoffnungsvollen Trends in anderen Teilen der Welt. Wie so viele andere ernst zu nehmende Beiträge dementiert der vorliegende Band mit je sieben englisch- und französischsprachigen Beiträgen keineswegs die Probleme, denen viele Länder (nicht nur) in Afrika gegenüberstehen: Wie es in der Einleitung heißt, bildet ,,Afrika keine Ausnahme zu der unbeständigen Politik der Gegenwart", doch ist die Debatte allzu sehr auf ,,ein idealisiertes westliches Modell der Staatlichkeit" bezogen (S. x). Die Herausforderung liegt letztlich zum einen in der konkreten Fallanalyse, zum anderen in der Ausweitung der Debatte auf andere Disziplinen als die der Politikwissenschaft sowie in die Bereiche der aktiven Politik hinein.

Die abschließend in der Einleitung formulierte Perspektive wendet sich gegen die ,,Pendelbewegung zwischen Staat und Gesellschaft", die die Debatte bestimmt hat und rückt Fragen der Staatsbürgerschaft (,,citizenship") und der ,,sozialen Bewegungen sowie Massenkämpfe (,,popular struggles")" ins Zentrum der Aufmerksamkeit (S. xl).

Gerade aus dieser Perspektive ergibt sich ein verstärktes Interesse an der ,,,niederen Politik' von Kräften auf lokaler und Basis-Ebene, aber auch interethnischer und transnationaler Prozesse" (S. xx). Hierauf gehen die knappen Überlegungen des Philosophen Valentine-Yves Mudimbe zu einer zentralafrikanischen Adaption der biblischen Schöpfungsgeschichte ein, die auf eine hierarchische, mit Gender-Bedeutungen aufgeladene Kosmologie hinweist. Ähnliches gilt für Jean-Loup Amselles Darstellung der Wurzeln und Wirkungsweise der prophetischen N'ko-Bewegung in Mali mit ihrer aktiven Aneignung ,,ausländischer Einflüsse". Diese wurden im ,,afrikanischen Boden verankert", um ,,gegenüber den historischen Neuerungen, für die die Kolonisierung stand, ein lokales politisches Äquivalent zu finden" (S. 25). Erst recht einschlägig ist hier John Lonsdales Analyse von Ethnizität und Tribalismus in Kenia - über das Fallbeispiel hinaus ein unverzichtbarer Bezugspunkt zum Verständnis ethnischer Dynamik. Catherine Coquery-Vidrovitch weist auf die Rolle städtischer Frauen und Jugendlicher in Westafrika hin, bleibt dabei jedoch sehr kursorisch. Ähnliches gilt für Bogumil Jewsiewickis Vergleich zwischen Erinnerungspraktiken in der Demokratischen Republik Kongo und der südafrikanischen ,,Truth and Reconciliation Commission".

Unmittelbarer um Staaten geht es, wenn Giampolo Calchi Novati die Umbildungen von Staaten am Horn von Afrika seit der ersten Definition moderner staatlicher Grenzen während der kolonialen Aufteilung Afrikas Ende des 19. Jahrhunderts nachzeichnet. Der Schwerpunkt liegt auf den Kriegen, die zu Beginn der 1990er-Jahre zur Unabhängigkeit Eritreas und zum Sturz des Derg-Regimes in Äthiopien führten, sowie dem Grenzkonflikt zwischen Äthiopien und Eritrea (1998-2000). Dieser Konflikt trug zur inneren Konsolidierung Äthiopiens bei, kann aber angesichts der inzwischen eingetretenen Ereignisse, insbesondere der äthiopischen Intervention in Somalia, definitiv nicht mehr als 'letzter' dieser Kriege bezeichnet werden, als den ihn Novati zumindest hypothetisch betrachtet (S. 108). Roland Marchals untersucht ergänzend die Staatsauflösung und neue gesellschaftliche Akteure in Somalia - just jene islamistischen Formationen, denen die Invasion Äthiopiens Ende 2006 gegolten hat. Patrick Chabal und Jean-Pascal Daloz fassen kurz ihre viel diskutierte Position aus ,,Africa Works" (1) zusammen und schließen sich den hier recht zahlreich versammelten Stimmen an, die aus unterschiedlicher Perspektive das ,,Modell des schwachen Staates" geradezu als aporetisch kritisieren (Marchal, S. 233). Bei erheblichen Unterschieden herrscht Einigkeit darüber, dass sehr viel konkretere Analysen und genaueres Hinsehen erforderlich sind als die übergreifende Rede vom ,,schwachen Staat" nahelegt, um zu verstehen, wie es zu Konflikten kommt und was Akteure dazu motiviert. Die Komplexität der Politik in Afrika, die auf mehreren Ebenen angesiedelt ist und in mehreren kulturellen Registern inszeniert wird - wobei die Adaption kolonialer, postkolonialer und allgemein westlicher Formen von entscheidender Bedeutung ist -, wird weiter erhellt durch den ausführlichen Versuch von Dominique Darbon, diese Politik unter dem Gesichtspunkt der ,,politiques publiques" zu lesen. Er unterscheidet aufschlussreich zwischen ,,Unwirksamkeit", ,,Ineffizienz" und ,,Folgenlosigkeit" staatlichen Handelns (S. 181). Außerdem verweist er auf die Bedeutung von institutionellem Pluralismus und ,,forum shopping" auch als Restriktion für den ungehinderten Transfer analytischer Modelle aus anderen Kontexten (S. 195). Aus regionalanalytischer Perspektive zeigt Daniel Bach die oft übersehene Bedeutung der viel kommentierten kolonialen Grenzen in Afrika als Kommunikationsräume oft sehr problematischer Art auf, die mit der Etablierung grenzüberschreitender Netzwerke und der Auflösung der Verbindung zwischen ,,territorialer und räumlicher Kontrolle" einhergehen (S. 247). Für eine weitere aktuelle Problemstellung, nämlich die jahrzehntelange Militarisierung afrikanischer Staaten und die daraus resultierenden aktuellen, wiederum im Einzelfall zu bewertenden Herausforderungen einer Demobilisierung, gelangt Christopher Clapham ungeachtet des Zurückdrängens der Militärregime seit Beginn der 1990er-Jahre zu skeptischen Schlussfolgerungen für territorial sehr ausgedehnte Staaten wie Nigeria, Sudan, Äthiopien oder die Demokratische Republik Kongo. Im Fall eines relativ erfolgreichen Prozesses der Konfliktbeilegung in Mosambik belegt Anna Maria Gentili die anhaltenden Exklusions- und Marginalisierungsprozesse entlang der Fronten des vor einem Jahrzehnt beendeten Bürgerkrieges.

Gegenüber diesen Befunden muss René Otayeks aus ,,afrikanischer Perspektive" vorgetragenes Plädoyer zur ,,Rehabilitierung des Staates" als Ordnungsmacht (S. 151) als problematisch erscheinen: Das allzu hohe Abstraktionsniveau erlaubt keine Aussage zu den empirisch vorzufindenden Problemen. Dagegen spricht Adebayo Olukoshis abschließend formuliertes ,,doppeltes Projekt der Erneuerung des Staates und der sozialen Staatsbürgerschaft" zwar ernste Probleme an; wenn Olukoshi die Einlösung dieses Projektes jedoch allein von einer ,,ausreichend selbstbewussten globalen sozialen Bewegung" (S. 271) erhofft, dürfte dies freilich (noch) allzu optimistisch sein.

Der Band bietet so wenigstens teilweise innovative und anregende Perspektiven auf die Problematik des Staates in Afrika und auch darüber hinaus, gerade weil der Spagat zwischen der Pluralität afrikanischer Erfahrungen und zuweilen kühnen Verallgemeinerungen immer wieder gewagt wird. Bedauerlich ist allein, dass die redaktionelle Bearbeitung der englischsprachigen Beiträge oft nachlässig ausgefallen ist, was die Lektüre stellenweise erschwert.

Reinhart Kößler, Bochum/Freiburg

Fußnoten:


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