ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Thomas Gees, Die Schweiz im Europäisierungsprozess. Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Konzepte am Beispiel der Arbeitsmigrations-, Agrar- und Wissenschaftspolitik 1947-1974, Chronos Verlag, Zürich 2006, 416 S., brosch., 44,80 €.

Aufgrund ihrer zahlreichen politischen Eigenheiten gilt die Schweiz landläufigen Vorstellungen zufolge als Paradebeispiel eines Sonderfalls von europäischer Staatlichkeit. Innenpolitisch zeichnet sich das politische System der Schweiz vor allem durch den konsensdemokratischen Charakter und seine Kollegialregierung, die vielfältigen Elemente direkter Demokratie, den ausgeprägten bundesstaatlichen Föderalismus der 26 Kantone und das Fehlen eines spezifischen Staatsoberhauptes aus. Außenpolitisch stellt hingegen das seit dem Wiener Kongress währende Prinzip der dauerhaften Neutralität, das die Schweiz von politischen Bündnisverpflichtungen abhält und selbst den Beitritt zu den Vereinten Nationen im Jahr 2002 zu einer umstrittenen Entscheidung machte, ein prägendes Merkmal dar. Dass im Dezember 1992 in einem Referendum der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum abgelehnt und daraufhin vom eidgenössischen Bundesrat der Beitrittsantrag zur Gemeinschaft bzw. Union bis auf Weiteres auf Eis gelegt wurde, zementierte die vorherrschende Sicht auf die Schweiz als europäischen Sonderfall einmal mehr.

Diese weit verbreiteten Meinungsbilder und Vorstellungen bilden auch den Ausgangspunkt der Studie von Thomas Gees, der in seiner Baseler Dissertation der Frage nachgeht, ob die Schweiz tatsächlich einen europäischen Sonderfall darstelle oder ob die Eidgenossenschaft nicht vielmehr, so seine eingangs aufgeworfene These, wirtschafts- und gesellschaftspolitisch seit dem Ende der 1940er-Jahre einem Prozess der Europäisierung unterliege. Die in jüngster Zeit zunehmend häufiger in wissenschaftliche Analysen Einzug erhaltende Kategorie der ,,Europäisierung" wird von Thomas Gees dabei als Prozess definiert, bei dem Regierungsvertreter westlicher Staaten gemeinsam Konzepte erarbeiten, die ihrerseits Auswirkungen auf die Politik dieser europäischen Länder zeigen. Vor dem Hintergrund dieser spezifischen Definition von Europäisierung konzentriert sich der Autor weitgehend auf Regierungen und Verwaltungen. Der außenpolitischen Relevanz von staatlichen Akteuren trägt Gees mit seiner Eingrenzung damit zwar Rechnung, der von ihm selbst einleitend erhobenen Forderung nach einer Ausweitung der bisher dominanten außenpolitischen und diplomatiegeschichtlichen Orientierung in der Integrationsforschung um eine sozialgeschichtliche Dimension zollt er jedoch keinen Tribut.

Um seine These empirisch zu untermauern, gliedert Gees die Arbeit in drei Fallstudien, in denen er am Beispiel der Arbeitsmigrations-, der Agrar- und der Wissenschaftspolitik jeweils für den Zeitraum von 1947 bis 1974 untersucht, wie stark sich die Schweiz im Allgemeinen und der Bundesrat sowie die Bundesverwaltung im Besonderen an Konzepten orientiert haben, die einem gemeinsamen westeuropäischen Verhandlungsprozess entspringen. Auf Grundlage einer eingehenden Quellenrecherche in den Beständen des Schweizerischen Bundesarchivs, bei der den einzelnen Fachministerien besondere Bedeutung beigemessen wurde, kommt Thomas Gees zu ebenso substanziellen wie überraschenden Ergebnissen:

Für den Bereich der Arbeitsmigration zeigt er, dass die Schweiz im Zeitraum zwischen 1957 und 1961 von dem bis dahin vorherrschenden Rotationsmodell abging und sich zunehmend am Niederlassungsprinzip orientierte. Zurückgeführt wird dieser politische Kurswechsel von Gees auf rege Debatten über die Personenfreizügigkeit, die nicht nur in der seinerzeitigen EWG, sondern auch in der damaligen OEEC _ der die Schweiz seit ihrer Gründung 1948 angehörte _ geführt wurden. Der prägende Charakter dieser Debatten und die Vereinbarungen der OEEC trugen maßgeblich dazu bei, dass zum Ende der 1950er-Jahre wirtschaftliche Erwägungen für die Migrationspolitik der eidgenössischen Ministerialverwaltung an Bedeutung gewannen. Für den Bereich der Agrarpolitik kann der Autor ebenfalls grundlegende konzeptionelle Debatten identifizieren, die sich an internationalen Organisationen und an der EWG orientierten: Mit dem Ziel einer Sicherung der Grundversorgung hatte die Schweiz _ wie andere Staaten in Europa auch _ nach dem Weltkrieg eine durch hohe Preise und Zölle geschützte Landwirtschaft etabliert. In den 1960er-Jahren zielte die schweizerische Politik darauf, die Privilegien der heimischen Bauern mit Blick auf die europäische Konkurrenz und das Ziel der Versorgungssicherheit nicht in Frage zu stellen, zugleich aber Effizienz steigernde Maßnahmen in die Wege zu leiten. Für das dritte Untersuchungsfeld _ den Bereich der Wissenschaftspolitik _ gelingt es Gees zu zeigen, dass der anfänglich ausgeprägte Widerstand gegenüber einer dezidierten Technologie- und Forschungspolitik sukzessive zu Gunsten einer Technologie freundlicheren Sichtweise und einer stärkeren Intervention der Bundesebene abgebaut wurde. Diese politische Akzentverlagerung wurde durch das Wirken der OECD, später dann auch durch Programme der Europäischen Gemeinschaft wesentlich forciert.

Ausgehend von den drei detaillierten Fallstudien, deren Darstellung insgesamt drei Viertel des Bandes ausmacht, bilanziert der Autor abschließend, dass die Schweiz stärker als bisher bekannt von westeuropäischen Konzepten geprägt wurde. Insbesondere der OEEC-Beitritt übte Einfluss auf die politische Öffnung der Schweiz aus, da er die institutionellen Eigenarten der Eidgenossenschaft nicht in Frage stellte, zugleich aber eine zunehmende Orientierung an europäischen Entwicklungsprozessen und entsprechenden wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen ermöglichte. Parallel zu diesen Befunden wird durch die Studie von Gees auch verdeutlicht, dass die EWG, vor allem nach der Überwindung ihrer Beitrittskrise Ende der 1960er-Jahre, ebenfalls zu einem wichtigen Bezugsfeld der Schweiz avancierte, das sich nicht zuletzt im Bereich der Forschungs- und Technologiepolitik widerspiegelte. Schließlich schlussfolgert der Autor, dass die Europäisierungsprozesse auch zu Veränderungen im Machtgeflecht der Schweiz führten, da in erster Linie die eidgenössischen Zentralinstanzen aus den europäisch induzierten, wirtschaftlichen Veränderungen gestärkt hervorgingen.

Mit den hier knapp skizzierten Befunden ist indes lediglich der Kern der Ergebnisse von Thomas Gees umrissen. Unterhalb dieser Makroebene präsentiert die Studie ein dichtes Panorama an quellengestützten Detailergebnissen, die sowohl der Integrationswissenschaft als auch künftigen Forschungen zur Geschichte der Schweiz wichtige Impulse und Anknüpfungspunkte, aber auch manch neue Fragestellung liefern. Von besonderem Interesse für die wissenschaftliche Forschung ist, dass der bisher weitgehend vernachlässigten OEEC bzw. der OECD als organisatorischer Rahmen für die wechselseitigen Beziehungen zwischen der Schweiz und Westeuropa zentrale Bedeutung zugeschrieben wird. Begründet wird dies vom Autor mit dem Argument, dass die Öffentlichkeit an den hier geführten Verhandlungen nur begrenzt Anteil nahm und so der Eindruck vermieden wurde, dass Europa überhaupt Auswirkungen auf die Schweiz hätte. Diese Variante einer gewissermaßen verborgenen Europäisierung wird von Gees als besonders systemadäquat beschrieben, da sie nicht den Widerspruch einer überwiegend am Leitbild der ,,isolierten" Schweiz orientierten Bevölkerung heraufbeschwor.

Von zentraler Bedeutung für die wissenschaftliche Forschung ist über diese plausibel begründete Erkenntnis hinaus, dass mit der Arbeit der Blick auch auf ein bisher weitgehend unbeachtetes und unbekanntes historisches Phänomen gelenkt wird _ auf die Auswirkungen des europäischen Einigungsprozesses auf einzelne Nationalstaaten. Als komplementäres Gegenstück zu der Arbeit von Roland Maurhofer über die schweizerische Europapolitik zwischen 1947 und 1969 bietet die Arbeit Einblicke in einen Staat, der formal weder von der supranationalen Integration der EWG, noch von der auf eine Freihandelszone hinwirkenden EFTA rechtlich tangiert wurde _ und dennoch einer anhaltenden Europäisierung unterlag.

Neben diesen beiden wichtigsten Erträgen der vorliegenden Untersuchung sollen indes auch kleinere Schwächen nicht unerwähnt bleiben: Das größte Manko resultiert dabei aus dem Umstand, dass trotz der Disziplin übergreifenden und kenntnisreichen Einleitung des Autors kaum generalisierende Verbindungslinien zu anderen Staaten und vergleichbaren Entwicklungsprozessen in Europa gezogen werden, die von den Nachbardisziplinen der Historiografie bereits eingehender behandelt wurden. Dabei wären nicht nur die _ im Blickfeld der Studie von Gees stehenden _ internationalen Organisationen und die EWG, sondern auch die Interaktionsstränge von Parlamentariern und Parteien, von subnationalen Einheiten und Kommunen oder auch von intermediären Gruppierungen als ,,Foren" der Europäisierung zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang wäre auch eine eingehendere Erörterung des Europäisierungsbegriffs hilfreich; nicht zuletzt, um zwischen politischer Integration und technischer Standardisierung stärker zu differenzieren. Der Rekurs auf entsprechende Forschungsergebnisse kann für weitergehende Studien über die Europäisierung der Schweiz wichtige Erkenntnisse liefern, vor allem, wenn die vom Autor mehrfach geforderte soziale und gesellschaftliche Dimension dieses Prozesses näher analysiert werden soll.

Jenseits dieser Überlegungen bleibt aber festzuhalten, dass Thomas Gees mit seiner Studie eine wichtige Entwicklungsperspektive künftiger zeitgeschichtlicher Forschung beleuchtet hat. Forschungsarbeiten zu den einzelnen europäischen Staaten werden künftig kaum noch umhin kommen, die europäische Ebene und entsprechende wechselseitige Verflechtungsprozesse zu berücksichtigen.

Jürgen Mittag, Bochum


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