Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Helga Grebing, Die Worringers. Bildungsbürgerlichkeit als Lebenssinn - Wilhelm und Marta Worringer (1881-1965), Parthas-Verlag, Berlin 2004, 317 S., geb., 38,00 €.
Helga Grebing hat mit der hier zu besprechenden und offensichtlich an ein breiteres Publikum gerichteten Doppelbiografie ,,Die Worringers" ein faszinierendes Buch vorgelegt. Es erzählt die Lebensgeschichte des Kunsthistorikers Wilhelm Worringer, dem der soziale Aufstieg ins gehobene Bürgertum gelang, und seiner Ehefrau Marta, der Tochter eines hoch angesehenen Kölner Rechtsanwalts und Stadtverordneten. 1907 heirateten die beiden, die, nur drei Tage auseinander, im selben Jahr (1881) geboren wurden und auch im gleichen Jahr (1965) starben. Damit decken sich die Lebensdaten der beiden Hauptfiguren dieser Biografie mit jener zusammenhängenden Epoche zwischen der Jahrhundertwende um 1900 und den 1960/70er-Jahren, die man im Anschluss an Detlev Peukert als ,,Klassische Moderne" bezeichnen kann. Diese Ära markierte einerseits den Durchbruch der soziokulturellen Moderne, andererseits aber auch den Niedergang ,,jener eigentümlichen bildungsbürgerlichen Lebenswelt" (S. 7), an der die Worringers teilhatten und die in diesem Buch überaus dicht und einfühlsam beschrieben wird.
Das vorliegende Werk stellt das Ergebnis einer langjährigen Zusammenarbeit und Freundschaft der Autorin mit Lucinde Sternberg dar, der jüngsten Tochter der Worringers und späteren Ehefrau des bekannten sozialistischen Theoretikers Fritz Sternberg. Galt es zunächst, Leben und Werk von Fritz Sternberg aufzuarbeiten, verdichtete sich im Laufe der 1980er-Jahre bei Helga Grebing die Absicht, eine Biografie über Lucinde Sternbergs Eltern zu verfassen. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass die Autorin eine grundsätzliche Sympathie für ihre Protagonisten nicht verbergen kann. Dies schmälert jedoch nicht den Wert dieser sowohl literarischen als auch wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Biografie, denn Grebing weiß das Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz produktiv zu nutzen.
Das Buch umfasst neben einem Pro- und Epilog zwölf Kapitel, die den Lebensweg der Worringers nachzeichnen, der vom wilhelminischen Kaiserreich bis in das zweite Jahrzehnt der Bundesrepublik reicht. Die ersten drei Kapitel behandeln die Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. In diese Phase fiel die Hochzeit von Marta und Wilhelm, seine Promotion im Fach Kunstgeschichte (1907), der mehrmalige Wechsel des Wohnortes (München, Köln, Bern und schließlich Bonn) sowie die Geburten der drei Töchter: Brigitte (1908), Renate (1911) und Lucinde (1918). Für die junge Familie war diese Zeit von permanenten Geldnöten geprägt, denn als Privatdozent erhielt Wilhelm Worringer lediglich Kolleggelder und Honorare für seine Bücher. Entsprechend nutzte Marta Worringer ihre künstlerischen Fähigkeiten, um die knappe Haushaltskasse aufzubessern. Dies tat sie, die stets ,,hohe Anforderungen an sich selbst" stellte (S. 71), neben den nicht in Frage gestellten Pflichten als Mutter und Hausfrau. Karriere machte nicht sie, sondern ihr ,,lebensdilettantischer" Mann, wie Marta ihn später einmal apostrophierte (S. 29). Der Gang an die Universität sollte erst den Töchtern der Worringers vergönnt sein, worin sich nicht zuletzt der Beginn eines fortschreitenden generationellen Wandels der Geschlechterrollen im 20. Jahrhundert widerspiegelt.
Die Zeit der Weimarer Republik, von der Autorin in den Kapiteln vier bis sechs dargestellt, war für Wilhelm Worringer zunächst eine Phase herber Niederlagen. Gleich sechs Mal erhielt er bei Berufungsverfahren Absagen. Das lag zum einen sicherlich an seiner linksliberalen politischen Einstellung, die er mit seiner Frau und den Töchtern teilte, aber auch an der Tatsache, dass er stets ein akademischer Außenseiter blieb: ,,[E]r war eben in Stil, Auftreten, Lehrweise ein recht seltenes Exemplar für eine klassische deutsche Universität - eben ein bißchen Aquarell" (S. 49f.). Erst 1928 erhielt Wilhelm Worringer einen Ruf auf einen Lehrstuhl. Er führte ihn und seine Familie ins ostpreußische Königsberg, in eine ,,Stadt, in der bald die Nazis lärmten" (S. 105) und der bekannte nationalkonservative Historiker Hans Rothfels zu einem seiner nächsten Kollegen wurde. Damit endete für die Worringers zunächst auch ein Abschnitt finanzieller Unsicherheit.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 bedeutete für alle Worringers einen tiefen Einschnitt (Kapitel 7-9). Sowohl Wilhelm Worringer, ein der Sozialdemokratie nahestehender Intellektueller und auch seine beiden älteren Töchter, die Mitglieder linker, marxistischer Studentengruppen waren, glaubten sich zu Recht nicht ungefährdet. Wenngleich sie entschiedene Gegner des Nationalsozialismus waren, richteten sich die Worringers zunächst in der Diktatur ein, ,,versuchten [... ] das alte Leben, dem neuen sich entziehend, weiter zu leben" (S. 137). Vor allem Wilhelm wählte den Weg der inneren Emigration und publizierte außer einer Rezension in der gesamten Ära des Dritten Reiches kein einziges Wort. Im Laufe der Zeit praktizierten die Worringers jedoch zunehmend aktive Opposition, indem sie beispielsweise Verfolgungen verhinderten und Verfolgten halfen. Bei Kriegsausbruch mussten die Worringers Königsberg verlassen und nach München zurückkehren. Das Kriegsende erlebten Marta und Wilhelm Worringer schließlich bei Freunden in Berlin.
Die Kapitel 10 bis 12 beschäftigen sich schließlich mit den letzten Lebensjahren der beiden Worringers in der unmittelbaren Nachkriegszeit und der frühen Bundesrepublik. Zunächst musste sich Wilhelm Worringer nach einem neuen Ordinariat umsehen. Ein Engagement in Göttingen zerschlug sich, und so landeten beide vorläufig in Halle-Wittenberg, wo Wilhelm eine ordentliche Professur an der dortigen Martin-Luther-Universität erhielt und zum Direktor des Kunstgeschichtlichen Instituts ernannt wurde. Doch lange hielten es die Worringers in der sowjetisch besetzten Zone nicht aus, dem politischen Druck mochte sich Wilhelm nicht beugen. Marta und Wilhelm kehrten wiederum nach München zurück, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1965 lebten. Diese letzten Jahre waren insbesondere bei Wilhelm Worringer von dem Bewusstsein geprägt, dass mit dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus irreversibel das Ende der bürgerlichen Gesellschaft gekommen sei: ,,[J]a, wir Proletarier leben in einer neuen Welt, in einer nicht mehr umzuschminkenden, neuen Tatsachenwelt! In einer Lebenswelt, in die die alte bürgerliche Bildungswelt nur noch wie ein immer mehr zurücktretendes Randgebirge hineinragt" (S. 231).
Diese alte, untergegangene ,,bürgerliche Bildungswelt" den heutigen Leserinnen und Lesern auf äußerst spannende Weise nahegebracht zu haben, ist gewiss das Verdienst dieser Biografie zweier Exponenten des Bildungsbürgertums. Was ,,Bildungsbürgerlichkeit als Lebenssinn" ausgezeichnet habe, wird von Helga Grebing in ihrem Schlusswort folgendermaßen skizziert: Großzügiges Wohnen, bescheidene, aber stets stilsichere Kleidung, der gegenseitige Austausch über Literatur, Philosophie, Theater und Kunst, weniger über das politische Tagesgeschehen, Geselligkeit, etwa in Form des Briefwechsels sowie Reisen in Europa: ,,Stil haben, Würde bewahren, Ansprüche stellen und behalten, selbst wenn sie sich vorübergehend oder endgültig als unlösbar erwiesen, machten immer Sinn" (S. 294f.). Doch Grebing sieht nicht ausschließlich die positiven Seiten dieses Lebensentwurfes, sondern weist auch auf die für das Bürgertum charakteristische geschlechtsspezifische Arbeitsteilung hin, die den Frauen grundsätzlich die Kindererziehung und Haushaltsführung zuwies. Selbstverwirklichung durch Erwerbsarbeit oder künstlerische Tätigkeit musste stets mit einer Doppel- oder Dreifachbelastung erkauft werden: ,,Für die eigene Arbeit mußten sie sich Zeit stehlen; es war überwiegend Mehrarbeit - ein hoher Preis für die Emanzipation" (S. 295). Daher erscheint dem Rezensenten dieses ansonsten außerordentlich gelungenen Werkes die im Schlusswort der Autorin zu Tage tretende normative Aufladung problematisch, die sich in dem Versuch offenbart, die bildungsbürgerliche Lebenswelt als Modell für Zukunft zu akzentuieren und die sich somit in gewisser Weise in die aktuellen publizistischen Debatten um eine ,Neue Bürgerlichkeit' einschreibt: ,,Aber vielleicht ist es ja möglich, gedanklich vorwegzunehmen, was an Wirklichkeit noch auf uns zukommen mag, und dann zu begreifen, welche kulturellen Horizonte Menschen in ihrem Leben sich zu eröffnen wußten, und solche Einsichten dann auch zu nutzen. Historische Spuren schrecken nämlich nicht nur, sie können auch anleiten, Leben in menschlicher Würde zu gestalten und zu bewältigen" (S. 296).
Andreas Schneider, Berlin