Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Heinz-Joachim Barsickow (Hrsg.), Politische Lager und Reichstagswahlen im Raum Herne vor dem Ersten Weltkrieg, Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer, Bochum 2004, 285 S., kart., 29,90 €.
Die bei Peter Brandt in Hagen angefertigte Dissertation von Heinz-Joachim Barsickow bestätigt einmal mehr die Erklärungskraft erstens der mit dem Sozialmilieubegriff verbundenen Konstellationsanalysen nach Rainer M. Lepsius, zweitens der Herausarbeitung grundlegender Konfliktlinien (,,cleavages") nach Seymour Lipset und Stein Rokkan sowie drittens der integrativen Betrachtung von Wählertradition, wie sie Karl Rohe in seinen Untersuchungen zur Wahlsoziologie und zur Geschichte der politischen Kultur vorgab. Zudem orientiert sich die Regionalstudie über Herne - mitten im Ruhrgebiet - an der modernisierungstheoretischen Vorstellung zunehmender Politisierung. Um diese Vorstellung untersuchen zu können, zeigt die Dissertation die typischen politischen Strukturen dieser regionalen, von der Montanindustrie geprägten Gesellschaft in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf.
Nach der Darstellung der politisch-administrativen Strukturen einer defizitären Urbanisierung, die sich daraus ergab, dass Industriedörfer im Ruhrgebiet zu Städten zusammenwucherten, und der durch Zuwanderung und extreme Mobilität geprägten Bevölkerungsstrukturen, wendet sich Barsickow der Herausbildung politischer Lager zu. Dabei entdeckt er Strukturen, die für das Ruhrgebiet typisch sind.
Zunächst verliefen die politischen Spaltungslinien zwischen den Liberalen, die unter der Führung der Nationalliberalen ein bürgerlich-protestantisches Lager bildeten, und den agrarisch orientierten Konservativen einerseits sowie dem politischen Katholizismus andererseits. In den 1870er-Jahren war dem politischen Katholizismus zunächst der Durchbruch gelungen, begünstigt durch den Aufbau eines weit in das tägliche Leben hineinragenden Organisationsnetzes und einen mobilisierend-integrierend wirkenden Kulturkampf. Entlang der Konfessionslinie kristallisierte sich bald ein Zweilagersystem heraus. Neben dem katholischen Lager mit seinen vielfältigen Integrationsangeboten, bildeten die nicht-katholischen Gruppen ein bürgerlich-nationales Lager, das auch bestimmte national-sozialpatriarchalisch orientierte und protestantische Arbeiter an sich band. Dass dieses protestantisch-nationale Lager in Ermangelung eines breiteren Mittelstandes in den Industriedörfern nicht sehr bürgerlich sein konnte, ist anzunehmen. Es verfügte jedoch durchaus über eigene, oft übersehene Organisationsstrukturen, vor allem im Umfeld der protestantischen Kirchen, aber auch z.B. bei den Kriegervereinen.
Nach dem Schlüsselereignis des großen Bergarbeiterstreiks von 1889 und der Nichtverlängerung des ,,Sozialistengesetzes" gelang es der Sozialdemokratie, die ihre erste Verfolgung gleich in ihrer Entstehungsphase erlebt hatte und die in Artikulation des Klassenkonfliktes mit dem Sozialkatholizismus im Wettbewerb stand, dieses Zwei- zum Dreilagersystem aufzubrechen und sich zur Massenbewegung zu entwickeln. Dies geschah vorwiegend auf Kosten des protestantischen Lagers.
Aufgrund nationaler Ressentiments in der deutschen Gesellschaft, anhaltender Diskriminierung und der Entwicklung eines eigenen polnischen Nationalbewusstseins spalteten sich daneben Teile der polnischen Zuwanderer vor allem vom katholischen Lager ab. Sie bildeten nun ein eigenes Vereinswesen und eine eigene Gewerkschaft. Bei Wahlen stellten sie schließlich eigene Kandidaten auf. Etwa ab der Jahrhundertwende bestand damit in Herne wie im übrigen Ruhrgebiet ein Vierlagersystem. In Herne war das polnische Lager aufgrund der Bevölkerungsstrukturen allerdings besonders stark ausgeprägt.
Die politischen Lager verfügten jeweils über ein ausgebautes Netz von Umfeldorganisationen. Das organisatorisch schwächste Lager war das ,,verspätete" sozialdemokratische mit seiner noch recht begrenzten Arbeiterbewegungskultur. Relativ uneinheitlich gestaltete sich das protestantisch-nationale Lager, während das katholische sozial ebenfalls wenig homogen war. Exemplarisch zeigt der Autor die Lagerstrukturen mit ihren zahlreichen, miteinander vernetzten Verbänden auf. Hier werden die Vorteile der Lokalstudie mit ihrer ,,größere[n] Genauigkeit in der Erfassung des Strukturellen" (Wolfgang Köllmann) deutlich.
Im Anschluss befasst sich Barsickow mit den Wahlen als ,,Abbild politischer Lager" und dem (Modernisierungs-)Prozess zunehmender Politisierung. Nach der obligatorischen Analyse der Bedingungen der Wahlen (Wahlrecht etc.) untersucht er vor dem Hintergrund der erarbeiteten Lagerstrukturen die Reichstagswahlkämpfe und ihre Ergebnisse. Besonders interessant sind die Ausschöpfungsgrade des Wählerpotenzials der verschiedenen Lager und die Verhaltensweisen bei den Stichwahlen in dem heiß umkämpften Wahlkreis Bochum-Gelsenkirchen. Der Autor sieht hier eine große Bedeutung des Konfessionsfaktors bei allerdings steigender Relevanz der Klassenlinie.
Die dichten Informationen wurden in mühevoller Arbeit aus Archivalien, überlieferten Zeitungen, Adressbüchern etc. erarbeitet. Insbesondere bei den überlieferten Akten der Behörden weist Barsickow zu Recht immer wieder darauf hin, dass ein repressiver Obrigkeitsstaat misstrauisch die Arbeitermassen im Ruhrgebiet beobachtete, die Regungen der Interessenartikulation aufmerksam verfolgte, ,,nationalpolitische" oder sozialdemokratische ,,Bestrebungen" frühzeitig zu unterdrücken suchte und auch ,,ultramontane" Aktivitäten möglichst nicht zur Entfaltung kommen lassen wollte. Berichte von voreingenommenen Beamten oder die Publikationen aus unterschiedlichen Lagern spiegeln folglich die politische Kultur der regionalen Gesellschaft in spezifischer Weise wider.
Neben der Quellenlage liegt ein Problem der an politischen Lagern und Milieus orientierten Untersuchung darin, dass der Blick vor allem auf die organisierten bzw. die milieuhaft gebundenen Teile der Bevölkerung gerichtet ist. Obwohl z. B. auf nachlassende Kirchenbindung hingewiesen wird, werden dadurch die Ungebundenen, die Hochmobilen und Fluktuierenden sowie die auf Grund des Industrialisierungsprozesses Entwurzelten oder durch Stadtluft (von alten Bindungen) Befreiten vernachlässigt. Wohl auch aus diesen Bevölkerungsgruppen, die in den überlieferten Quellen lediglich indirekt erfasst werden können, rekrutierten sich bestenfalls lose in die Lagerstrukturen integrierter Bevölkerungsteile. Diese hatten, angesichts der schwierigen Lebensverhältnisse im Ruhrgebiet, der Herausforderungen des Ersten Weltkrieges und der überschäumenden Hoffnungen nach dem Ende des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates ein großes Protestpotenzial inne, das im Ruhrgebiet in der bürgerkriegsähnlichen Anfangsphase der Weimarer Republik aktiv wurde. Die Sozialdemokratie, die dieses Wählerpotential vor dem Weltkrieg nur schwach an sich binden und kaum prägen konnte, wurde zu einem zentralen Ort der politischen Auseinandersetzungen in der Ruhrgebietsgesellschaft.
Diese Studie gewährt tiefe Einblicke in die politischen Lagerstrukturen Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg, zeigt die regionale Ausprägung des Lagersystems in einer spät industrialisierten und defizitär urbanisierten Region am Beispiel Herne und gibt schließlich ein Beispiel für die historische Wahlsoziologie.
Stefan Goch, Gelsenkirchen