ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ulrich Pfeil (Hrsg.), Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz (Pariser Historische Studien, Bd. 81), Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2007, 395 S., geb., 44,80 €.

In Zeiten moderner ,,knowledge societies" mögen Publikationen zur Wissenschaftsgeschichte als rückblickende Orientierung oder Selbstverortung im Prozess anhaltender Verwissenschaftlichung fast selbstverständlich erscheinen. Der Entstehungszusammenhang von Pfeils Sammelband ist freilich handfester, verdankt er sich doch einer umtriebigen Tagungsaktivität im Vorfeld des Gründungsjubiläums des Deutschen Historischen Instituts Paris 2008. Dieser Band hält bei genauerer Lektüre einmal mehr, was ein Blick auf die Liste der Autoren, alle einschlägige Experten auf dem deutsch-französischen Forschungsfeld, und auf die zur Vororientierung hilfreichen Zusammenfassungen bereits nahe legt.

Hans Manfred Bock eröffnet mit einem kritischen Forschungsüberblick und diskutiert, wie von einer Untersuchung deutsch-französischer Institutionen zu einer Geschichte mindestens der bilateralen Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen zu gelangen ist. Dazu identifiziert er allgemeinere Ansätze, wie die vergleichende Sozialgeschichte sowie den ,,transfert culturel", und präpariert weitere Analyseverfahren heraus. Dazu gehören die prosopografisch vergleichende Hochschulforschung, die historisch-soziologischeAkteursanalyse, die legitimationskritische Disziplingeschichte im Umfeld der aufgearbeiteten ,,Westforschung" und die wissenschaftsgeschichtliche Professionalisierungsforschung. So gibt Bock im Dickicht konzeptioneller Angebote Orientierung und regt an, die unterschiedlichen Sichtweisen stärker miteinander zu kombinieren. Mit jeweils vier Studien zur Zwischenkriegszeit und den Kriegsjahren gegenüber neun weiteren Untersuchungen zur Nachkriegszeit sichert sich der Band anschließend erst historisch ab und zeichnet dann ein Bild der Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen seit den 1950er-Jahren.

Zunächst thematisieren Bernd A. Rusinek mit dem Bonner Institut für Rheinische Landeskunde und Wolfgang Freund mit dem ebenfalls 1920 gegründeten Elsaß-Lothringen-Institut in Frankfurt am Main, wie auf französischer Seite honorierte deutsche Forschungsunternehmungen sich Mitte der 1930er-Jahre strukturell und konzeptionell gleichschalteten und reaktionär verkrusteten. Katja Marmetschke weist in der universitätsexternen deutschen Romanistik und französischen Germanistik der späten 1920er-Jahre einen verständigungsorientierten, wenngleich nicht politikfreien Elan im Geist der Locarno-Ära nach. Seine Kurzlebigkeit illustriert aber Corine Defrances Studie zum ,,Centre d'études germaniques", dessen Mainzer Sitz seit 1921 noch ganz den kooperativen Willen der französischen Hochschulinstitution reflektierte, bis seine Rückverlegung nach Straßburg 1930 von antideutscher Verhärmung als Reaktion auf die nationalsozialistisch überformte ,,deutsche Wissenschaft" zeugte.

Strategien und Strukturen der deutschen 'Kulturpolitik' im besetzten Frankreich zwischen 1940 und '44 im allgemeinen und der 'Kriegseinsatz' der deutschen Geisteswissenschaften im besonderen werden anschließend vierfach eingefangen: einmal mit den Studien von Frank-Rutger Hausmann zum Modell des Deutschen Instituts in Paris, dann von Christina Kott zum mit der Zwischenkriegsentwicklung verglichenen ,,Deutschen Kunstschutz" und von Anja Heuss zur deutschen Beschlagnahmung von Archivgut in Frankreich sowie schließlich von Claude Singer zum Kollaborationsklima an den französischen Universitäten während der Okkupationsphase. Die Untersuchungen zeigen, wie 1940/41 zu Teilen noch minimale Optionen für grenzüberschreitende Arrangements einschließlich prekärer Balanceakte französischer Wissenschaftskollaborateure bestanden. Angesichts propagandistischer Unversöhnlichkeit und eines martialischen Ideologieaufgebots ungeachtet aller polykratischen Unübersichtlichkeiten auf deutscher Seite brachen diese Optionen allerdings ebenso rasch wieder weg.

Besonders dicht wird das empirische Panorama noch einmal in den letzten beiden, der Nachkriegsphase gewidmeten Teilen des Bandes. Zur Profilierung von Einrichtungen, die nach 1945 wiedergegründet wurden, nehmen sich erst Eckard Michels das Goethe-Institut (1962/65) und Ulrich Pfeil, auf der Basis absichernder historischer Rückblicke, die DAAD-Außenstelle (1963-1972) in Paris vor; Béatrice Bonniot konzentriert sich auf das Institut Français in Berlin (1930-1955). Hier wie im Folgeteil wird erkennbar, wie der neue Segen deutscher 'Zurückhaltungskultur' auch teilweise die programmatische Lähmung deutscher Kultur- und Wissenschaftspolitiker provozierte. Zuletzt entfaltet sich im Spiegel sechs weiterer Beiträge zu institutionellen Neugründungen das Panorama deutsch-französischer Austauschstrukturen seit den 1950er-Jahren. Ansbert Baumann beschäftigt sich mit dem 1958/59 gegründeten Institut Saint-Louis und Ulrich Lappenküper mit dem Deutschen Haus der Cité Universitaire in Paris (1950-1956). Ulrich Pfeil rekonstruiert erst die Restituierung des DHIP 1958 und zusammen mit Corine Defrance die lange Vorgeschichte der Deutsch-Französischen Hochschule seit den frühen 1960er-Jahren. Pierre Monnets Untersuchung der Mission ,,historique française" in Göttingen (seit 1977) und Nicolas Beauprés Skizze zum Berliner Centre Marc Bloch (1992/94) beschließen den Band.

Insgesamt legen die durchweg gediegenen Beiträge u. a. Zäsurphasen wechselseitiger deutsch-französischer Wissenschafts- und Kulturtransfers nahe, einmal Mitte der 1950er- - dem Startschuss zum Wiederaufbau der deutsch-französischen Hochschulbeziehungen - und Ende der 1960er-Jahre im Hinblick auf den transnationalen Freisetzungseffekt des innerdeutschen Vergangenheitsdiskurses. Bemerkenswerterweise lässt sich zudem durch manche historisch-kritische Würdigung der Leistung französischer wie deutscher Akteure und Institutionen, die nach 1945 unter ungünstigen Vorzeichen eine neue Austauschdynamik anstießen, ein Appell erkennen: Im 21. Jahrhundert, so scheint als Subtext mitgeliefert, sollte das mühsam erneuerte Erbe der transnationalen Vernetzung nun nicht fantasie- und verantwortungslos vermeintlich ressourcenbedingten Sachzwängen geopfert werden. Der Band braucht hier nicht zum tagespolitischen Pamphlet umzuschwenken, er formuliert sein fraglos plausibles Votum vor dem Hintergrund seriöser historischer Betrachtung.

An der einen oder anderen Stelle erscheint die Sammlung weniger stark. Etwa bleibt das Deutschlandverständnis, ohne dass diese (analytisch legitime, aber inhaltlich nicht selbstverständliche) Auslassung näher begründet würde, ganz westlich, wiewohl mehrere Beiträge en passant nahelegen, dass die Systemkonkurrenz und Rivalität mit dem ostdeutschen Teilstaat beim Anspruch auf deutsches Kulturerbe ein Elixier auswärtiger Kulturpolitik in der Bundesrepublik in den 1950er-Jahren darstellte und insofern westdeutschen Strategien im Umgang mit Frankreich mitbestimmte. Auch werden ohne Not wenige systematische Verbindungen hergestellt mit jener Literatur, die im Blick auf den transatlantischen Austausch unter dem Stichwort der ,,cultural diplomacy" erschienen ist, wiewohl hier etwa zur Frage von Netzwerkakteuren und durchaus auch im Grenzbereich zur Wissenschaftsgeschichte Substanzielles gesagt wurde.

Der Band mündet aber schon selbst in synthetisierende Überlegungen von Michael Werner, der das Für und Wider derzeitiger Forschungsachsen abwägt und die wichtigsten Desiderate auf dem Feld offenlegt. Konzeptionell reflektiert und vielerorts anknüpfungsfähig für die Untersuchung anderer europäischer und möglicherweise auch transatlantischer Beziehungskonstellationen, legen Pfeil und seine Autoren damit am Ende ein facettenreiches Stück institutionenbezogener Kultur- und Wissenschaftsgeschichte vor.

Helke Rausch, Leipzig


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