Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Peter Lieb, Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegsführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich 1943/44 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 69), Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2007, 631 S., geb., 49,80 €.
Peter Liebs Studie, eine von Horst Möller betreute Dissertation, verlangt dem Leser Einiges ab. Dies ist nicht so sehr dem Umfang von 631 Seiten geschuldet, sondern der Art und Weise, wie der Autor seine Befunde präsentiert. Das Thema ist so spannend wie umstritten: die Rolle der Wehrmacht im besetzten Frankreich 1943/44. Lieb geht es darum, die in der neueren Forschung vertretene These zu widerlegen, dass das deutsche Westheer dort einen zunehmend ideologisch motivierten, völkerrechtliche Bindungen immer mehr missachtenden Krieg geführt habe. Dazu wartet er mit einer immensen Fülle an Quellen auf. Er hat deutsche, britische und französische Archive gesichtet, alle relevanten Bestände der Wehrmacht durchforstet und die französischsprachige Sekundärliteratur in die Analyse einbezogen. In fünf Kapiteln analysiert der Autor die Grundzüge der militärischen Besatzungspolitik bis 1943/44, deren Strukturen und Akteure, die Kampfhandlungen nach der alliierten Invasion, die deutsche ,,Partisanenbekämpfung" und die Rückzugsbewegung des Westheeres nach dem Zusammenbruch der Westfront im Herbst 1944. Der ,,Kampf im Hinterland" gegen die französischen Partisanen nimmt mit fast 180 Seiten den größten Teil ein. Lieb schätzt, dass dabei bis zu 16.000 Franzosen getötet wurden, die meisten in den Monaten zwischen Juni und September 1944. Damit legt er erstmals solide Zahlen zu den Opfern der deutschen ,,Partisanenbekämpfung" in Frankreich vor, auf denen die weitere Forschung aufbauen kann.
Im Mittelpunkt seiner Studie steht die Frage nach der Rolle der Wehrmacht: Welche Einheiten waren an Kriegsverbrechen beteiligt und welche nicht? Wie sah die deutsche Kriegführung 1943/44 aus, und unter welchen Bedingungen schlug sie in brutale Repression um? Minutiös rekonstruiert Lieb die militärischen Operationen, zu denen eine Vielzahl verbrecherischer Praktiken gehörten: Geiselnahmen, Erschießungen von Kriegsgefangenen, Zwangsrekrutierungen der Zivilbevölkerung zum ,,Stellungsbau", Requisitionen und Plünderungen, das Abbrennen von Dörfern, Massaker an der Zivilbevölkerung, Verbrechen auf den Rückzügen und die Ermordung von Juden. Als Täter macht Lieb die Großverbände der Waffen-SS, die Sicherheitspolizei (Sipo) und den Sicherheitsdienst (SD) der SS sowie wenige militärische Einheiten wie etwa die 157. Reservedivision und einige Fallschirmjägerverbände aus. Im Verantwortungsbereich der Sicherungsverbände des Militärbefehlshabers sei es dagegen nur selten zu verbrecherischen Übergriffen gekommen. Dies gelte auch für die Masse des Westheeres, das sich in der Regel völkerrechtskonform verhalten habe. Keinesfalls könne man in der militärischen Kriegführung in Frankreich eine systematische Terrorstrategie erkennen, geschweige denn einen weltanschaulich begründeten Vernichtungskrieg.
Es sind sieben, insgesamt kaum überzeugende Argumente, mit denen Lieb diese These zu untermauern versucht. Erstens glaubt er, militärische Organe seien bei der ,,Partisanenbekämpfung" von Waffen-SS, Sipo und SD marginalisiert worden, ohne die Befehls- und Unterstellungsverhältnisse untersuchen zu können, weil die Akten der SS-Dienststellen als verloren gelten müssen. Zweitens führt er einen Großteil der deutschen Verbrechen in Frankreich auf radikalisierende Befehle Hitlers sowie des Oberkommandos der Wehrmacht zurück, ohne das Zusammenspiel zwischen Zentrale und Peripherie bei der Entstehung solcher Befehle hinreichend zu beachten. Drittens konstruiert Lieb ein permanentes Sicherheitsrisiko für das Westheer, das sich aus der Kampftaktik der französischen Partisanen ergeben habe, obwohl diese doch nur vergleichsweise selten deutsche Soldaten überfielen. Viertens spürt er allenthalben Grauzonen im zeitgenössischen Völkerrecht auf, ohne zu erklären, weshalb diese von deutschen Militärorganen am exzessivsten ausgenutzt wurden. Fünftens weist der Autor wiederholt auf völkerrechtswidrige Aktionen der Alliierten hin, ohne daraus einen Zusammenhang zur Radikalisierung des Westheeres herstellen zu können. Sechstens neigt er dazu, Wehrmacht-Dienststellen humanitäre Akte zu unterstellen, obwohl die von ihm angeführten Beispiele meist aus militärischen Notwendigkeiten resultierten. Siebtens schließlich verweist er durchgängig auf die höhere Intensität der Wehrmachtverbrechen an der ,,Ostfront" und auf dem Balkan, ohne sich die relativierende Funktion dieses Vergleichs hinreichend bewusst zu machen.
Meist übernimmt Lieb die Perspektive der Quellen, sodass er die verbrecherische Rolle der Wehrmacht in Frankreich unterschätzt. Dies betrifft vor allen Dingen deren antijüdische Politik. Der Autor suggeriert eine völkerrechtskonforme Behandlung jüdischer Kriegsgefangener (S. 195f.), die keinesfalls gegeben war. Einerseits wurden sie bewusst schlechter versorgt, was gegen Artikel 4 der Genfer Konvention von 1929 verstieß. Andererseits dehnte die Wehrmacht Artikel 9 dieser Konvention unzulässig aus, indem sie Juden auch in Frankreich als ,,Rasse" definierte und von den übrigen Kriegsgefangenen separierte. Einen Zusammenhang zwischen ,,Partisanenbekämpfung" und Holocaust vermag Lieb nicht zu erkennen, weil es lediglich zwei militärische Großunternehmen gegen die Résistance gegeben habe, bei denen jeweils 80 beziehungsweise 59 Juden ermordet worden seien (S. 407, 411). Beiläufig erwähnt er, die Wehrmacht habe bei den Judendeportationen 1942/43 ,,bisweilen Hilfsdienste" geleistet und sei ,,als Institution in Form der Eisenbahntransportleitung und Teilen der Feldgendarmerie in die ,Endlösung der Judenfrage' im Westen verstrickt" gewesen (S. 398f.). Er weiß von Vorbehalten des Militärbefehlshabers und des Oberbefehlshabers West gegen die Deportation von 40.000 Pariser Juden zu berichten, die der Höhere SS- und Polizeiführer Helmut Knochen Mitte Juni 1944 plante, und raunt, ,,dass im Sommer 1944 ,nur' mehr 1 300 Juden aus Paris in die Gaskammern im Osten gebracht wurden" (S. 410). Es sei ,,wohl vor allem dem Einschreiten" dieser beiden militärischen Organe zu verdanken gewesen, ,,dass Paris während der letzten Tage der deutschen Besatzung nicht noch völlig ,judenfrei' wurde. So gesehen rettete ,die' Wehrmacht im Sommer 1944 deutlich mehr Juden das Leben, als Juden von ihr bei Anti-Partisanenunternehmen getötet wurden" (S. 410f.). Einen ernstzunehmenden Forschungsbeitrag zur Beteiligung militärischer Dienststellen an der NS-Judenpolitik kann man dies schwerlich nennen.
Der empirische Ertrag der vorliegenden Studie ist gewiss nicht zu bestreiten, denn niemals zuvor ist die deutsche Kriegführung in Frankreich 1943/44 so dicht beschrieben worden. Jedoch hat der Autor seinen Stoff nur unzureichend durchdrungen. Vielmehr schreibt er einfach die Quellen ab, ohne eigene Begriffe oder Konzepte zu deren Interpretation zu entwickeln. In aller Regel dient ihm dieser Positivismus dazu, andere Historiker, die sich mit demselben Thema befasst haben, zu desavouieren. Liebs Versuch, die deutschen Verbrechen institutionell genauer zuzuordnen, folgt letztlich einem antiquierten Verständnis von Verantwortlichkeit. Zu scharf trennt er zwischen Wehrmacht auf der einen sowie Waffen-SS, Sipo und SD auf der anderen Seite und fällt hinter die Erkenntnisse der neueren Forschung zurück, die ja die Arbeitsteilung zwischen militärischen und polizeilichen Dienststellen im ,,Totalen Krieg" betont. Auch verwendet der Autor des Öfteren NS-Propagandafotos, bei denen er jedwede Quellenkritik vermissen lässt. Viele sprachliche Missgriffe und die durchgängig falsche Verwendung des Konjunktivs machen die Lektüre seines Buches nicht gerade zu einem Vergnügen. Weitere Darstellungen werden folgen müssen, um die Rolle der Wehrmacht im besetzten Frankreich 1943/44 angemessener zu beschreiben, als es Lieb gelungen ist.
Armin Nolzen, Warburg