ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Alex J. Kay, Exploitation, Resettlement, Mass Murder. Political and Economic Planning for German Occupation Policy in the Soviet Union, 1940-1941 (Studies on War and Genocide, Bd. 10), Berghahn Books, New York/Oxford 2006, 242 S., geb., $ 75,00/£ 45,00.

Die Ausbeutungs- und Hungerpolitik der deutschen politischen und militärischen Führung gegenüber den Völkern der Sowjetunion im ,,Unternehmen Barbarossa" 1941 steht seit einem Vierteljahrhundert immer wieder im Fokus der kriegswirtschaftlichen Forschungen zum Russlandfeldzug. Dabei besteht ausgehend von Christian Streit (1978) und Rolf-Dieter Müller (1983) sowie Christian Gerlach (1999) bis zu Johannes Hürter und Adam Tooze (2006) Konsens darin, dass die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Planungen des Feldzuges die Inkaufnahme des Hungertodes von ,,zig Millionen Menschen" vorsahen, um die ernährungswirtschaftlichen Interessen der Wehrmacht und des Deutschen Reiches zu bedienen. (1) Strittig ist im Wesentlichen die Frage einer angemessenen Begriffsbildung zur Kennzeichnung dieses Hungervorhabens. Während Christian Streit, Rolf-Dieter Müller, Christian Gerlach und Adam Tooze die Bezeichnung ,,Hungerplan" präferieren, erscheint Johannes Hürter die Kategorie ,,Hungerkalkül" angemessener.

Die zu besprechende Studie stellt die Dissertation des jungen britischen Historikers Alex J. Kay an der Humboldt Universität Berlin bei Ludolf Herbst und Rolf-Dieter Müller auf dem skizzierten Forschungshintergrund dar. Sie untersucht die politischen und wirtschaftlichen Planungen der deutschen Besatzungspolitik in Russland vom Juli 1940 an - dem Monat, in dem Hitler ausweislich der Tagebuchaufzeichnung des Generalstabchefs des Heeres, Franz Halder, den Entschluss fasste, die Sowjetunion anzugreifen - bis zu der beginnenden Implementierung der Okkupationsplanungen nach dem Überfall am 22. Juni 1941. Als Hauptziele seiner Untersuchung für diesen zwölfmonatigen Zeitraum gibt Kay an, die politischen und wirtschaftlichen Planungen, deren Kompatibilität miteinander sowie die Rolle des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete, Alfred Rosenberg, zu analysieren. Zu diesem Zweck wertet er neben der bis 2005 erschienenen Fachliteratur das in verschiedenen Bundesarchiven verfügbare relevante Dokumentenmaterial aus (u. a. dem Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, der Vierjahresplanbehörde, des Wirtschaftsstabes Ost, dem persönlichen Stab des Reichsführers SS und dem Nachlass Herbert Backe). Neue Quellen konnte Kay nicht finden, wohl aber die bekannten für sein Thema sorgfältig erschließen. Trotz partieller Interessensunterschiede zwischen handlungsleitenden Akteuren, wie Göring, Himmler und Rosenberg, und Institutionen, wie der Vierjahresplanbehörde und der Wehrmacht, waren sich diese doch in fundamentalen Fragen der anzustrebenden Besatzungspolitik einig, so der Befund Kays: Diese betrafen die wirtschaftliche Ausbeutung, insbesondere der Nahrungsmittelressourcen unter Inkaufnahme von vielen Millionen Hungertoten, und die Bevölkerungspolitik, welche die Germanisierung von Teilen der Sowjetunion und die Deportation von Juden und anderen unerwünschten Gruppen Richtung Osten vorsahen.

Dezidiert arbeitet Kay die wesentlichen Parameter der Hungerpolitik heraus. Initiiert wurde das Vorhaben, ,,zig Millionen Menschen verhungern" zu lassen, von Göring und Führungsstellen der Wehrmacht, ehe diese Zielvorstellung in einer Besprechung der Staatssekretäre vom 2. Mai 1941 dokumentiert wurde. Diese hat der Autor schon in einer Vorabveröffentlichung zu seiner Dissertation in einer international angesehenen Fachzeitschrift umfassend untersucht und wurde dafür mit dem George L. Moss Preis für die beste wissenschaftliche Erstveröffentlichung des Journal of Contemporary History 2006 ausgezeichnet. (2) Schon im Februar 1941 hatte der Chef des Wirtschafts- und Rüstungsamtes im Oberkommando der Wehrmacht, General Georg Thomas, Hitler eine Denkschrift übersandt, in der er als realistische Zielsetzung erklärte, beim geplanten Russlandfeldzug soviel an landwirtschaftlichen Überschüssen herauszuholen, dass der deutsche Zuschussbedarf für 1941 und 1942 gedeckt sei sowie die Ernährungssituation in Deutschland auf hohem Niveau gehalten werden könne. Dazu schlug er vor, den einheimischen Verbrauch in den zu erobernden Gebieten der UdSSR drastisch zu verringern. Eine weitere Kernaussage seiner Denkschrift bestand darin, die Frage der Lösung des Ernährungsproblems durch die Ausbeutung der ukrainischen Getreidevorkommen mit der des Energieproblems durch die Eroberung der kaukasischen Erdölfelder zu verbinden. Konzeptionell ausgearbeitet wurde das Hungervorhaben in erster Linie von Experten des Ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft unter der Leitung von dessen Staatssekretär Herbert Backe. Zum einen sollte die negative Ernährungsbilanz im Reich ausgeglichen werden, dessen Getreidevorräte eineinhalb Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges entscheidend zusammengeschmolzen waren. Zum anderen strebte man an, die Nachschubwege der Wehrmacht bei ihren geplanten gigantischen Vorstößen von allem zu entlasten, was nicht absolut notwendig erschien: Die drei Millionen Soldaten sollten 'aus dem Lande' ernährt werden. Eine wesentliche Einschränkung des Nahrungsmittelverbrauchs in Deutschland galt als Tabu. Die konzeptionellen Überlegungen zu diesem Hungervorhaben mündeten in die am 23. Mai 1941 folgenden ,,Wirtschaftspolitischen Richtlinien" des von General Thomas aufgebauten Wirtschaftsstabes Ost, zu der auch Backes Landwirtschaftsapparat gehörte. Danach wurde die Sowjetunion in zwei landwirtschaftliche Großräume aufgeteilt, einmal die Überschussgebiete, die ,,Schwarzerdegebiete" im Süden (Ukraine), Südosten und im Kaukasus, dann die Zuschussgebiete, die ,,Waldzone" von Weißrussland bis zum Ural, einschließlich der Zentren Leningrad und Moskau, aber mit Ausnahme des Baltikums. Die Überschussgebiete sollten zu Gunsten der Wehrmacht, Deutschlands und des von ihm beherrschten Europa von den Zuschussgebieten abgeriegelt werden. Die Menschen in den Zuschussgebieten sollten damit dem Hungertod ausgeliefert werden. Kay bezeichnet dieses Vorhaben als Absichtserklärung und Konzept. Den Begriff Hungerplan verwirft er, denn ,,the whole idea was too insufficiently thought through to be described as a ,plan'" (S. 207). In dem mit einer nützlichen Chronologie der wichtigsten Entscheidungsprozesse, einer Synopse der geplanten Besatzungsstrukturen, Karten zur geplanten Aufteilung der Sowjetunion in vier Reichskommissariate sowie einem verbundenen Personen- und Sachregister ansonsten vorbildlich editierten Buch, werden leider die landwirtschaftlichen Überschussgebiete (,,Grain surplus territories") mit den Mangelgebieten (,,Grain deficit territories") grafisch vertauscht (S. 219).

Die weitgehende Übereinstimmung in fundamentalen Fragen der Besatzungsziele resümiert Kay wie folgt: ,,The extent of agreement on major issues among the economic planners and those who ultimately made the final decisions on state policy, above all Hitler, was in fact substantial" (S. 202). Dass es trotzdem in der Besatzungspraxis zu teilweise chaotischen Verhältnissen im Zusammenwirken der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Institutionen kam, lag nicht zuletzt daran, dass der Feldzug nicht wie beabsichtigt in zwei Monaten erfolgreich zu Ende geführt werden konnte und für diesen Fall keine Planungen vorlagen. So kam es nie zu der Errichtung der fest vorgesehenen vier Reichskommissariate Russland, Ostland, Ukraine und Kaukasus und der Etablierung einer dauerhaften Zivilverwaltung. Zudem stimmte Rosenberg zwar der Hunger- und Ausbeutungspolitik explizit zu, konnte sich aber mit seiner abweichenden Auffassung, eine Unabhängigkeit der Ukraine anzustreben und die wirtschaftliche Ausbeutungspolitik mit Kooperationsangeboten zu verbinden, nicht durchsetzen. (3)

Die Studie des jungen britischen Historikers Alex J. Kay zeichnet diese massenmörderische Ausbeutungs-, Bevölkerungs- und Hungerpolitik genauer nach und analysiert die Handlungsmuster der sie planenden Akteure intensiver als bisher vorliegende Untersuchungen. Sie ist in einer unaufgeregten, sachlichen Diktion ohne unnötige Redundanz und gut lesbar verfasst. Aus diesen Gründen ist ihr über den englischsprachigen Raum hinaus eine weite Verbreitung und angemessene Rezeption in Wissenschaft, Forschung und einer historisch-politisch interessierten Öffentlichkeit zu wünschen.

Wigbert Benz, Karlsruhe

Fußnoten:


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