ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Martin Schulze Wessel (Hrsg.), Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, Bd. 27), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2006, 272 S., geb., 40,00 €.

Lange war Religion in den deutschen Sozial- und Geisteswissenschaften, die sich weit gehend einem Säkularisierungsparadigma verschrieben hatten, ein eher randständiges Thema. Nicht erst mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001, sondern bereits mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa kam die Bedeutung von Religion und Konfession neu in den Blick. Die Bedeutung, die beispielsweise der Katholizismus im Allgemeinen und der Papst im Besonderen für den politischen Kampf der Gewerkschaft ,,Solidarność" hatten, war ebenso wenig zu übersehen wie die konfessionellen Etikettierungen der Konfliktparteien während der Balkankriege der 1990er-Jahre. Offensichtlich hatte die antikirchliche Politik der Kommunistischen Parteien nicht den von ihnen gewünschten Effekt. Vielmehr waren kulturelle Muster der Zuordnung von national-ethnischer und konfessioneller Identität lebendig geblieben, sodass bei der Neuformierung des gesellschaftlichen und politischen Feldes auf diese Ressourcen zurückgegriffen werden konnte. Der vorliegende Band, herausgegeben von Martin Schulze Wessel, Professor für Geschichte Osteuropas an der LMU München, widmet sich nun dieser Frage des Zusammenhangs von Nation und Religion im östlichen Europa.

In seinem einleitenden Beitrag weist Schulze Wessel die Vorstellung zurück, der Nationalismus sei als 'Ersatzreligion' an die Stelle traditioneller Religionen getreten. Zwar finde im Nationalismus eine Sakralisierung der Nation statt, eine ,,Übertragung von Funktionen und Ausdrucksformen von der Religion auf die Nation, in deren Ergebnis eine Strukturanalogie zwischen der modernen Nation und der Religion entsteht" (S. 7). Damit aber werde Religion keineswegs überwunden. Vielmehr sei die Möglichkeit einer ,,Nationalisierung der Religion" im Blick zu behalten, also der Anpassungsprozess, ,,in dessen Folge der religiöse Mensch auch das Wertesystem der Nation in sein Denken und Handeln aufnimmt" (ebd.). Beide Prozesse, die Nationalisierung der Religion und die Sakralisierung der Nation, seien im 19. und 20. Jahrhundert ausgesprochen komplex aufeinander bezogen worden und vollzogen sich in unterschiedlichen Kontexten auf sehr verschiedene Weisen. Die Besonderheit des östlichen Europas sieht Schulze Wessel dabei in der imperialen Verfasstheit: In den Vielvölkerreichen der Romanows und der Habsburger, auch im Osmanischen Reich und, bezogen auf seine polnischen Teilungsgebiete, in Preußen-Deutschland, stand Religion ,,zwischen der Indienstnahme durch das Imperium einerseits und die Nation andererseits. Beide waren in hohem Maße auf die Religion als Legitimationsressource angewiesen: das Imperium, weil es sich nicht auf eine sprachlich-kulturelle Homogenität und einheitliche politische Partizipation seiner Bevölkerung stützen konnte, und die Nation, weil sie ohne Staat zu ihrer eigenen Selbstverständigung in besonderer Weise auf Kultur, unter anderem auch religiöse Kultur, angewiesen war." (S. 12)

Wie die Religion des Imperiums und der Einzelnationen, wie imperialer Nationalismus und emanzipatorische Nationalismen sich aufeinander beziehen, untersuchen die Beiträge des Buches in zwölf differenzierten Fallstudien, die zu fünf Teilen zusammengestellt wurden: Nation und religiöse Kulte, Religion in den Nationalbewegungen des 18./19. Jahrhunderts, Religion und nationale Festkultur, Religion und Krieg, Religion in Kulturmustern.

Im Vordergrund stehen, dem Titel des Buches entsprechend, die unterschiedlichen Formen der Vermischung von Nationalem und Religiösem. So zeigt Harald Binder am Beispiel der Festkultur in Krakau 1861 bis 1910, welche Wechselwirkungen zwischen Nation und Kirche sich in bestimmten historischen Situationen und gesellschaftlichen Konstellationen entfalten konnten. Einmal wurde der Katholizismus zur Stärkung polnischer Identität genutzt, dann wieder zur Eingliederung Polens in das Habsburger Reich, während die Rationalisierung des politischen Prozesses schließlich die nationale Politik tendenziell säkularisierte. Allerdings wird auch immer wieder deutlich, dass Religion durchaus dysfunktional sein kann, wenn es um nationale Mobilisierungen geht. Diesen Aspekt betont der katholische Theologe Thomas Bremer im zweiten einleitenden Kapitel, in dem er die ökumenische Bewegung als Versuch des Christentums interpretiert, sich angesichts der Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts aus der engen Verbindung mit den Staaten und Nationen zu lösen. Joachim von Puttkamer argumentiert überzeugend, dass die religiöse Aufladung und sakrale Metaphorik von nationalen Schulfesten in Ungarn zwischen 1867 und 1914 nicht zwangsläufig dazu geführt habe, die emotionale Bindung der Schüler an die Nation zu fördern.

Es ist die Stärke des Bandes, auf einem durchgehend hohen Reflexionsniveau solche teils gegenläufigen, teils parallelen Bewegungen von Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation in Einzelfallstudien aufzuzeigen. Vor allem dort, wo anhand von Themen, die auf den ersten Blick sehr speziell wirken, größere historische Linien aufgezeigt werden und diese eine vertiefte Deutung der Gegenwart ermöglichten, lohnt die Lektüre in besonderem Maße. Dies gilt, um nur ein Beispiel zu nennen, für Klaus Buchenaus Analyse des serbischen Konzepts von ,,Svetosavlje".

Angesichts der Bedeutung, die Nationalisierungen der Religion und Sakralisierungen der Nation auch heute noch im östlichen Europa haben, ist es bedauerlich, dass nicht häufiger gegenwärtige Entwicklungen thematisiert wurden. Denn die Analyse der osteuropäischen Vielvölkerreiche, in denen Wege zu friedlicher Koexistenz verschiedener Weltanschauungen und Religionen gefunden werden mussten (und in den Nachfolgestaaten immer noch gefunden werden müssen), könnte ja nicht zuletzt die oft 'ost-vergessenen' westeuropäischen Diskussionen über religiöse und nationale Identitäten in der multireligiösen und konfessionellen Europäischen Union befruchten. Aber auch so zeigt das Buch, dem über den Kreis der Osteuropa-Historiker hinaus eine breite Leserschaft zu wünschen ist, was dieses unter Druck geratene Fach der Osteuropäischen Geschichte, im Hinblick auf interdisziplinäre Kooperationen und die Aufklärung der politischen und gesellschaftlichen Gegenwart, zu leisten im Stande ist. Das auch von der äußeren Gestaltung und Herstellungsqualität her überaus gelungene Buch ist uneingeschränkt zu empfehlen.

Joachim Willems, Berlin


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