ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Kathleen Klotchkov, Der lange Weg zum Fest. Die Geschichte der Moskauer Stadtgründungsfeiern von 1847 bis 1947 (Geschichtswissenschaft, Bd. 5), Verlag Frank & Timme, Berlin 2006, 372 S., 10 Abb., brosch., 34,80 €.

Eine kulturgeschichtlich orientierte Erforschung von städtischen Repräsentationen wie Stadtjubiläen und Stadtgründungsfeiern ist derzeit en vogue, stellen letztere doch wichtige Kristallisationspunkte der Memoration und der Identifikation für Gesellschaften dar. Zudem dienen sie als aufwändige Prestigefeiern der Repräsentation von Staaten nach außen, was gerade in sozialistischen Ländern eine große Rolle spielte. In ihrer, an der Humboldt-Universität zu Berlin entstandenen Dissertation widmet sich Kathleen Klotchkov den Stadtgründungsfeiern in Moskau. Ihre Untersuchung der 700-Jahrfeier 1847, der 750-Jahrfeier 1897 und der 800-Jahrfeier 1947 verfolgt das Ziel, die historische Entwicklung des Stadtfestes, die Stellung und Bewertung Moskaus als Hauptstadt sowie die Inszenierung von Macht im Zarismus und im Stalinismus zu betrachten (S. 18).

In drei einleitenden Kapiteln umreißt die Autorin den Ansatz und die Methoden ihrer Arbeit sowie den Forschungsstand im Kontext der historischen Festforschung Russlands, des Repräsentationsbegriffs in Anlehnung an Ernst Cassirer und des Mythosbegriffs in Bezug auf Roland Barthes. Die Tatsache, dass die Akteure und ihre verschiedenen Interessenslagen signifikant für die Festforschung sind, wird etwas umständlich über Formulierungen wie der Mensch als ,,Schlüssel zum Verstehen vergangener Tatsachen" erläutert (S. 26). Die Kategorie der Erinnerung oder des Gedächtnisses hat für die Darstellung ebenfalls eine besondere Bedeutung. Doch bleiben die diesbezüglichen Passagen über Gedächtnis und Erinnerungskulturen an der Oberfläche (S. 26/27). In diesem Zusammenhang macht die Autorin die ,,Oral History"-Forschung als Methode stark, kann aber selbst nur zwei Zeitzeugeninterviews in ihre Analyse der Stadtfeier 1947 - wenn auch gewinnbringend - integrieren. Auch Aussagen wie z. B., dass Historiker Quellen nicht nur sammeln, sondern auch deuten sollten, stellen einen Allgemeinplatz dar und tragen stellenweise zur Langatmigkeit der Studie im ersten Teil bei.

Im vierten Kapitel widmet sich Klotchkov der Stadtgründungsfeier des Jahres 1847, die sie als ein ,,verordnetes Fest" klassifiziert, weil Zar Nikolaus I. im Jahr 1846 eine eintägige Feier am 1. Januar 1847 anordnete. Allerdings zeigt die Autorin dann, dass es erhebliche Deutungskonkurrenzen um das Gründungsdatum, den 'richtigen' Zeitpunkt der Feier und ihrer Ausgestaltung zwischen den slawophilen Moskauer Intellektuellen, dem Staat und anderen intellektuellen Persönlichkeiten wie dem Junghistoriker Ivan Zabelin gegeben hat. Das Fest war also mehr als eine herrschaftlich gesteuerte Initiative, es bot vielmehr Anlass zur Selbstverständigung, Verortung und Selbstrepräsentation der städtischen Eliten.

Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der 750-Jahrfeier 1897 als ,,verpasstem Fest", weil das Stadtjubiläum nicht begangen wurde. Dafür sei verantwortlich gewesen, dass der Zar nach den katastrophalen Krönungsfeierlichkeiten im Jahr zuvor, bei denen 1.300 Menschen ums Leben gekommen waren, ein weiteres Großereignis nicht in Betracht zog. Auch die historischen Gesellschaften und Museen hätten als Träger und Orte historischer Erinnerung die Begehung des Stadtjubiläums nicht eingefordert. Allerdings habe es wiederum eine kleine Moskauer Öffentlichkeit gegeben, die lautstark an das Jubiläum erinnerte, sich aber nicht durchsetzen konnte. Insgesamt nähert sich die Autorin der Frage, warum die Feierlichkeiten ausfielen, eher konzentrisch an, ohne zu einem überzeugenden Ergebnis zu kommen.

Das Kapitel über die 800-Jahrfeier Moskaus im September 1947 unter der Überschrift ,,das arrangierte Fest" bildet den eigentlichen Mittelpunkt des Buches und ist - in der Analyse auch auf Grund der größeren Varianz der Quellen - wesentlich weit reichender und konziser als die vorangegangenen Abschnitte. So kann die Autorin facettenreich die Vorbereitung, Organisation und den Ablauf des Festes untersuchen sowie wichtige Hinweise zu den Formen der Aneignung durch die Bevölkerung geben. Angesichts der katastrophalen Lage in den Nachkriegsjahren in Stadt und Land bot die Stadtfeier die Möglichkeit, Moskau und damit die Sowjetunion nach außen und nach innen als Sieger des Zweiten Weltkriegs sowie als erfolgreiches und zukunftsweisendes Gesellschaftssystem zu inszenieren. Dabei war von besonderer Bedeutung, dass Stalin persönlich bei den Feierlichkeiten nicht anwesend, aber visuell durch überdimensionale Plakate präsent war. Dadurch konnte der Eindruck erweckt werden, so Klotchkov plausibel, dass die Stadtfeier von den Moskauern selbst initiiert und vorbereitet worden war. Zugleich wurde Stalin als Vater und Führer dargestellt, während die Stadt Moskau als Mutter der Bevölkerung personifiziert wurde. Die Stadt wurde aufwändig illuminiert. Nach dem Motto ,,Für jeden etwas" war das Festprogramm mit Musik, Theater, Kino und anderen Veranstaltungen zielgruppengerecht ausgerichtet und bezog das gesamte Stadtgebiet ein, während eine Militärparade als signifikantes Beispiel der Visualisierung von Macht fehlte. Im Jubiläum, so schlussfolgert die Autorin, ,,wurde eine Wirklichkeit antizipiert, die Moskau als architektonisches, kulturelles, industrielles, politisches und wissenschaftliches Zentrum jenseits von Mangel und Unzulänglichkeiten visualisierte, obwohl diese Wirklichkeit nicht der Realität entsprach" (S. 206). Souvenirs und andere Erinnerungsprodukte sollten diese Vorstellung auch in die Zukunft transportieren.

In diesem letzten Kapitel gelingt es Kathleen Klotchkov die vielfältigen Identifikationsangebote und die damit verbundenen kulturellen Praxen, aber auch Strategien der Inklusion und Exklusion differenziert herauszuarbeiten. So stellt sich am Ende die Frage, ob es nicht Gewinn bringender gewesen wäre, wenn die Autorin, zumal sie ihre Ergebnisse im Hinblick auf die drei Stadtgründungsfeiern nur ungenügend synthetisieren kann, die 800-Jahrfeier in den Mittelpunkt gestellt und daran die Bedeutung Moskaus als Repräsentationsort für die stalinistische Sowjetunion untersucht hätte.

Lu Seegers, Gießen


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