ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Miroslav Hroch, Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich (Synthesen: Probleme europäischer Geschichte, Bd. 2), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, 279 S., kart., 24,90 €.

Was bzw. wer konstituiert und konstruiert unter welchen Bedingungen die Nation? Dieser Leitfrage folgt Miroslav Hroch in diesem Band, um aus der Flut von Literatur zum Thema für den Leser das herauszufiltern, was man als Forschungskonsens bezeichnen kann. Im ersten Teil des Bandes liefert er einen souveränen Überblick über die unterschiedlichen theoretischen Zugänge zur Nationsbildung, wobei auch wichtige Arbeiten berücksichtigt werden, die in der westlichen Literatur weit gehend ignoriert werden, wie z. B. die von Aira Kemiläinen oder Eugen Lemberg. Am Ende stehen fünf Felder, mit denen Hroch versucht, den Stand der theoretischen Überlegungen präzise zu umreißen: 1. die Rückbindung von Nation an Geschichte, 2. die wichtige Rolle der Ethnizität und hier besonders der Sprache, sowie die Bedeutsamkeit von 3. Modernisierungsprozessen, 4. Interessenkonflikten und Machtkämpfen und 5. kulturellen wie sozialpsychologischen Faktoren.

Im zweiten Teil des Buches werden diese fünf Felder dann genauer vorgestellt, wobei wiederum die gedankliche Durchdringung des Stoffes und die Wahl der Beispiele bestechen. Hroch skizziert vorbildlich u. a. die Entwicklung von der sprachlichen Homogenisierung der frühen Neuzeit bis zur Sprachenpolitik des 19. Jahrhunderts. Er diskutiert den Einfluss der Bürokratisierung, des Militärdienstes und der Industrialisierung auf Nationsbildungsprozesse. Gerade die Behandlung der industriellen Modernisierung ist ein gutes Beispiel dafür, wie differenziert der Autor auf knappem Raum ein hochkomplexes Phänomen behandelt. Der Zurückweisung vulgärmarxistischer Vorstellungen von einer direkten Korrelation Kapitalismus - Nationsbildung folgt eine brillante Darstellung der oft widersprüchlichen, aber nichtsdestotrotz eminent wichtigen Beziehung von Nationsbildungsprozessen zu Phänomenen wie Protoindustrialisierung und Handelskapitalismus. Dabei versäumt Hroch es auch nicht, auf die Bedeutsamkeit der regionalen Industrialisierung hinzuweisen. Außerdem diskutiert Hroch hier noch die Folgen politischer und sozialer Emanzipationsforderungen, die zur Bauernbefreiung und zur Herausbildung bürgerlicher Gesellschaften in Europa führten.

Die Darstellung der fünf Felder endet schließlich im Versuch einer überzeugenden Typologisierung und Periodisierung von Nationsbildungsprozessen, die an bestehende Typologisierungen angelehnt sind, wie die von Theodor Schieder, Charles Tilly und Miroslav Hroch. Der Autor unterscheidet sechs Typen von Nationsbildungsprozessen, wozu nationale Einigungsbewegungen, integrierende Nationalbewegungen und verspätete Nationalbewegungen zählen. Darüber hinaus rechnet er Aufstandsbewegungen, erfolgreiche desintegrierte Bewegungen und erfolglose desintegrierte Bewegungen dazu. Die Typologisierung erfolgt auf der Grundlage von vier Etappen der Nationalbewegung (1. Beginn der nationalen Agitation, 2. Übergang von der Agitationsphase zur Massenbewegung, 3. Annahme und Präsentation des politischen Programms, 4. Erlangung der Staatlichkeit) und zwei Spuren der Modernisierung (1. Demokratisierung, Konstitutionalismus, 2. Industrialisierung). Den sechs Grundtypen werden dann verschiedene europäische Nationalbewegungen zugeordnet.

Der dritte und letzte Teil des Buches bietet schließlich einen luziden Überblick über die Akteure der Nationsbildung. Je nachdem, welche soziale Gruppe (Bauern, städtische Mittelschichten, Adel) die Nationsbildungsprozesse maßgeblich vorantrieb, wandelten sich die Inhalte und Formen der nationalen Diskurse. Machtkämpfe und Interessenkonflikte formten maßgeblich das Bild der Nationen, wobei neben den sozialen Konflikten auch die diejenigen zwischen Peripherie und Zentrum sowie die Kämpfe zwischen Staaten und Nationen Berücksichtigung finden. Territoriale Auseinandersetzungen und Grenzstreitigkeiten mobilisierten die Nation, brachten sie allerdings nicht hervor. Schließlich widmet sich der Autor der Frage nach der Bedeutsamkeit von Mythen, Symbolen und Festen für die Nationsbildung. Besonders die Nationalgeschichte war laut Hroch für die Konstruktion von Nationen im 19. Jahrhundert wichtig, wobei er wiederum eine kleine Typologie von vier unterschiedlichen Typen von Nationalgeschichte vorlegt. Hroch bezeichnet das 19. Jahrhundert sicher zu Recht als ,,Zeitalter der Geschichtswissenschaft", wobei vielleicht noch stärker zu berücksichtigen wäre, dass die Geschichtswissenschaft durchaus nicht überall in Europa von gleicher Bedeutung war. Ein kleines Fragezeichen wäre vielleicht auch hinter den folgenden Satz zu stellen: ,,Die historische Narration konnte nicht ,gegen' die überlieferten und kritisch überprüften Quellen konstruiert werden."(S. 156) Einer hier anklingenden Wissenschaftsgläubigkeit wären diejenigen Überlegungen gegenüberzustellen, die die Grenzen zwischen Mythos und Geschichte zunehmend in Frage stellen und aufzeigen, dass dieselben Quellen und Fakten ideologisch sowie identitätsbildend vielseitig einsetzbar und interpretierbar waren.

Abgesehen von der Bedeutsamkeit der Geschichte für Nationsbildungsprozesse hat Hroch auch viel Wichtiges zu sagen zum Kampf um Nationalsprache und -kultur, zum Komplex Schule und Nationalerziehung sowie zum Thema Kultur und nationale Mobilisierung. Kodifizierung, Intellektualisierung und Politisierung der Nationalsprachen werden vorgestellt; und der Autor bietet auch eine kurze Einführung in die Bedeutsamkeit von Symbolen, Stereotypen und Ikonografien von Nationalbewegungen. Selbst biologische Nationalismuskonzeptionen werden kurz abgehandelt (S. 205f.).

Das hier vorgestellte Buch ist von Hroch als dritter Band einer informellen Trilogie konzipiert, deren erster Teil 1968 die Nationalbewegungen der kleinen Völker Europas vorstellte und deren Folgeband 2000 die Ziele der Nationalbewegungen Europas diskutierte. Wie bereits bei den ersten beiden, so handelt es sich bei diesem dritten Band um vergleichende Geschichte auf höchstem Niveau.

Hroch hat ein schmales, aber doch wichtiges Werk geschrieben, das deutliche Zeichen einer lebenslangen produktiven Beschäftigung mit dem Thema trägt. Viele Sätze fassen auf prägnante Weise wichtige Erkenntnisse zusammen. Auf praktisch jeder Seite liefert der Autor profunde Einblicke in sein Thema. Die kurze Form bedingt, dass der Anmerkungsapparat sehr kurz gehalten ist. So gibt es etwa im wunderbaren Kapitel zum Erbe der Vergangenheit (S. 49-58) keine einzige Fußnote. Für Hrochs Kollegen, die gerne umfassender von seiner phänomenalen Literaturkenntnis profitieren möchten, ist das frustrierend, wobei auch der bibliografische Essay am Ende des Buches nur eine geringe Kompensation bietet, stellt er doch in wiederum allzu knapper Form nur die wichtigste Literatur (auf englisch, französisch und deutsch publiziert) vor. Aber insgesamt schmälert diese Anmerkung in keiner Weise die herausragende Leistung dieses Bandes, der die z. Zt. beste Einführung in Nationsbildungsprozesse leistet. Sie zeichnet sich aus durch eine ausgeprägte Fähigkeit des Autors, auch komplexeste Zusammenhänge auf den Punkt zu bringen und brillante Zusammenfassungen in einigen wenigen Punkten zu bieten. Außerdem besticht die Arbeit durch konzeptionelle und sprachliche Klarheit. Miroslav Hroch spielt über 250 Seiten lang souverän auf der Klaviatur unterschiedlicher Nationsbildungsprozesse.

Stefan Berger, Manchester


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