ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Heinz Schütte, Zwischen den Fronten. Deutsche und österreichische Überläufer zum Viet Minh (Berliner Südostasien-Studien, Bd. 6), Logos Verlag, Berlin 2006, 381 S., kart., 39,00 €.

Ho Chi Minh erklärte einmal, das Vorbild für seinen Guerillakrieg gegen die Kolonialmacht Frankreich in Nordvietnam (1946-1954) sei der Kampf der nordmarokkanischen Rifkabylen unter der Führung von Mohammed ben Abdelkrim gegen die Protektoratsmächte Spanien und Frankreich in den 1920er-Jahren gewesen. Offenbar ging er sogar so weit, dass er dabei die Praxis Abdelkrims kopierte, deutsche oder deutschsprachige Söldner der Französischen Fremdenlegion zum Desertieren zu animieren und sie in die eigenen Streitkräfte des Viet Minh zu integrieren. Drei akribisch recherchierte Lebenswege von gut 1.000 deutschen und österreichischen Überläufern zwischen 1945 und 1954 greift Heinz Schütte in seinem spannenden und lesenswerten mikrohistorischen Werk über ein nur selten behandeltes Thema heraus.

Die ,,Objektivität einer historischen Untersuchung" lässt Schütte bewusst außen vor, denn es geht ihm darum, die Darstellung der ,,Zerrissenheit und Fragmentierung der Geschichte des 20. Jahrhunderts" (S. 6f.) aus dem Blickwinkel der drei ,,Zwischenfrontmenschen" Rudy Schröder aus Köln alias Le Duc Nhan, Erwin Borchers aus Straßburg alias Chien Sy und Ernst Frey aus Wien alias Nguyen Dan zu erzählen. Dies tut der Qualität des Buches - von gelegentlichen pathetischen Passagen abgesehen - keinen Abbruch. Schütte beruft sich ,,nach detektivischen Recherchen" (S. 12) vor allem auf autobiografische Zeugnisse, und dem Text ist anzumerken, wie wichtig dem Autor das Schicksal seiner drei Protagonisten geworden ist.

Alle drei waren Kommunisten oder Sozialisten und lebten in einem bürgerlichen links-intellektuellen Milieu. Als Antifaschisten emigrierten sie in den 1930er-Jahren nach Frankreich, wo sie nach Kriegsbeginn - um der Zwangsinternierung zu entgehen oder wie Frey freiwillig - der Französischen Fremdenlegion beitraten. Als die Vichy-Regierung nach der deutschen Besetzung beschloss, die deutschen Fremdenlegionäre weiter von den Kriegsschauplätzen zu entfernen, landeten sie in Indochina. Frey, Schröder und Borchers wurden die führenden Köpfe einer zunächst antifaschistischen, dann antikolonialistischen Zelle innerhalb der Fremdenlegion, die ab November 1943 mit dem Spionagedienst der Kommunistischen Partei Vietnams in Verbindung stand. Sie schafften es 1945 sogar, ihre Desertion zum Viet Minh als geheime Operation für den französischen Geheimdienst zu tarnen.

Ernst Frey organisierte zunächst die militärische Ausbildung der ersten Offizierskader des Viet Minh und wurde zu Anfang des Krieges einem Sprengkommando zugeteilt, während Rudy Schröder und Erwin Borchers für die Zeitungen ,,La République" und ,,Le Peuple" sowie für den Radiosender ,,Die Stimme Vietnams" unter der französischen bzw. französischsprachigen Bevölkerung Indochinas politische Sympathisanten anzusprechen versuchten. Ebenso verfassten sie das Kampfblatt ,,Waffenbrüder" und Handzettel, um deutsche Fremdenlegionäre zum Desertieren zu animieren. Schröder, der Leiter der gemischten Einheit ,,Détachement Tell", beurteilte die Zuverlässigkeit der Überläufer, und Frey schreckte dann auch vor Liquidierungen nicht zurück. Später ließ auch Schröder ,,meuternde" deutsche Überläufer erschießen.

Die Organisation der Heimkehr von Deserteuren, die bevorzugte Aufnahme deutscher Deserteure in die eigenen Streitkräfte, die von ihnen übernommene militärische Ausbildung, die Integration der Deutschen durch Heirat, das Aufsteigen in hohe militärische Ränge, das Anfertigen von Desertionsaufrufen, die geplante Bildung einer reinen Legionärseinheit - all dies zeigt erstaunliche Parallelen zum Rifkrieg in den 1920er-Jahren auf. Zu dieser Zeit avancierten deutsche Überläufer aus der Französischen bzw. Spanischen Fremdenlegion, wie Josef Klems alias Caïd El Hadj Aléman oder Kurt Degenkolbe alias Caïd Abdullah, zu wichtigen Beratern Abd el Krims. Es wäre sicher interessant, diesem Phänomen einmal kolonialkriegsübergreifend genauer nachzugehen. Borchers, Frey und Schröder standen in der militärischen Hierarchie des Viet Minh ebenfalls weit oben und erhielten direkte Befehle von Oberbefehlshaber Vo Nguyen Giap. Dennoch blieben sich beide Seiten doch fremd. Die schwärmerischen revolutionären Ideen der Europäer prallten auf den pragmatischen politischen Realismus Ho Chi Minhs. Sie wurden funktionalisiert und, als sie nicht mehr gebraucht wurden, 1951 bzw. 1966 (Borchers) in die DDR bzw. nach Österreich (Frey) fortgeschickt. So blieben sie ,,für die vietnamesischen Verantwortlichen gewiss nur eine Fußnote in dem Drama des Widerstandskrieges von 1946 bis 1954" (S. 157) und wurden ,,auf dem Altar der Geschichte geopfert als nützliche Idioten" (S. 322). Schüttes Werk zeigt eine erhellende Perspektive von Zeugen vor Ort auf die Persönlichkeit Ho Chi Minhs, auf das Innenleben des Viet Minh und auf den durch verblendete Ideologisierung noch verstärkten Wahn des Krieges in Vietnam. Der journalistische, aber auch manchmal sperrige Schreibstil mit einer geradezu minutiösen Detailfreude ist gerade auch für ein breiteres Publikum geeignet. Hier kann der Leser nahezu hautnah erfahren wie spannend die historische Spurensuche und die aus ihr folgende Analyse sein kann.

Dirk Sasse, Münster


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