ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, 327 S., kart., 39,90 €.

Diese Bielefelder Habilitationsschrift führt anschaulich vor Augen, wie ertragreich eine kulturgeschichtlich inspirierte Militärgeschichte sein kann. Den Autor Thomas Kühne, der mittlerweile am ,,Strassler Family Center for Holocaust and Genocide Studies" der Clark University in Worcester (Massachusetts) lehrt, treibt die Ausgangsfragestellung an, was die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg bis zur Kapitulation im Innersten zusammenhielt - trotz der sich abzeichnenden Niederlage und der drastisch sinkenden Überlebenschancen des Einzelnen. Denn im Unterschied zum Ersten Weltkrieg entluden sich die Spannungen und Belastungen kaum einmal in kollektivem Protest oder Auflösungstendenzen; dieser Weltkrieg mündete in keine deutsche Revolution. Als Mythos, Schmiermittel und militärische Kardinaltugend untersucht Kühne die Kameradschaft und deren konkrete soziale Praxis, die durchaus auch verbrecherische Handlungen beförderte. Über dieses Leitbild der Kameradschaft hinaus geraten zugleich der Ort des nationalsozialistischen Krieges sowie der Gewalt im ,,kurzen" 20. Jahrhundert und damit erfahrungsgeschichtliche Dimensionen des Zweiten Weltkrieges in den Blick, die die bundesrepublikanische Gesellschaft bis in die 1970er-Jahre hinein maßgeblich prägten. Seinem akteursnahen und wissenssoziologisch unterfütterten Konzept (etwa Peter Berger/Thomas Luckmann) legt der Autor dabei vielfältige Quellen zu Grunde: Neben so genannten Egodokumenten, wie Tagebüchern und größeren soldatischen Briefkorpora, wertet er umsichtig zahlreiche literarische, filmische, publizistische und propagandistische Materialien aus.

Seine Geschichte der Kameradschaft im Deutschland des 20. Jahrhunderts entfaltet der Autor in drei Hauptteilen. Um sich die Schattierungen und Grundlagen des Kameradschaftsmythos' zu erschließen, nimmt er in einem ersten Schritt die konkurrierenden Deutungs- und Instrumentalisierungsversuche der Zwischenkriegszeit in den Blick. Sie erweisen sich dabei zunächst gleichsam als Abbild der sozial wie politisch tief zerklüfteten Weimarer Republik. Veteranen- und Kriegervereine stellten in ihrer Erinnerungskultur der Dolchstoß- eine Kameradschaftslegende zur Seite und verklärten die Realitäten und Schrecken des großen Krieges damit. Langezeit blieb der Kameradschaftsbegriff eher bürgerlich mit christlicher Ethik und sozialintegrativem Anspruch besetzt, wohl auch, weil sich der Argwohn gegenüber dem Massenheer angesichts der Revolution im nationalistisch-bürgerlichen Lager tief eingegraben hatte. Bei aller Kritik stellten aber selbst sozialdemokratische Kreise und pazifistische Autoren in ihren Romanen - von Remarque bis Renn - einen grundsätzlichen kameradschaftlichen Konsens kaum in Frage, sodass sich bis 1930 in enger Wechselwirkung mit der Dolchstoßlegende die Deutung durchsetzte, der Weltkrieg sei auf Grund des mangelnden gesellschaftlichen Zusammenhaltes verloren worden - eine Sichtweise, die es dem NS-Staat und seinen Organen erleichterte, den Kameradschaftsmythos mit dem einer Volksgemeinschaft zu verschmelzen.

Für die Zeit des Zweiten Weltkrieges spürt Kühne der konkreten und in sich durchaus widersprüchlichen kameradschaftlichen Praxis - auf Basis diverser Selbstzeugnisse - nach. Er unterscheidet dabei drei Soldatentypen: Neben den ,,geborenen" Soldaten und den ,,Unsoldaten" stellt er die große Masse der ,,gezogenen" Soldaten, denen das Kameradschaftsgefüge half, sich in die absolute Institution einzufügen und - weiblich konnotierte - Schwächen, wie etwa die Sehnsucht nach der Familie, zu überwinden, indem es solche Gefühle in Grenzen zuließ. Greifbar wird insgesamt die Janusköpfigkeit der Kameradschaft. Die Kameradschaft ermöglichte es dem Einzelnen, Tod und Leid zu ertragen und die grauenhaften Kriegserlebnisse zu bewältigen. Noch in der Schlussphase des Krieges, als militärische Primärgruppen rasch zerfielen, stiftete sie soziale Nähe und erzeugte Zusammenhalt. Gleichzeitig muss sie als militärische Leittugend ,,des reibungslosen Funktionierens" (S. 175) sowie Mitmachens und damit auch als Motor von Gewalt gelten. Kameradschaft konnte Komplizenschaft bei verbrecherischem Handeln einschließen, ohne dass der Einzelne dafür die moralische Verantwortung übernehmen musste.

Nach Kriegsende wandelte sich das Kameradschaftskonzept grundlegend, auch weil die Veteranen- und Kameradenvereine weit weniger Einfluss errangen als noch nach 1918. Dennoch blieb es bis in die 1970er-Jahre Kernbestandteil einer aktiven, humanitären, aber auch verdrängenden Erinnerungskultur. Die vorzüglich geschriebene und überzeugend komponierte Studie dokumentiert nachdrücklich, dass der gewalttätige, mörderische und leidvolle Krieg unter kulturgeschichtlichen Fragestellungen nicht aus dem Blick geraten muss. Wer sich zukünftig mit Hitlers Vernichtungskrieg, seinen erfahrungsgeschichtlichen Wurzeln und Folgen beschäftigen will, darf dieses facettenreiche und anregende Buch nicht außer Acht lassen.

Nils Freytag, München


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 30. Oktober 2007