Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Miriam Gebhardt/Clemens Wischermann (Hrsg.), Familiensozialisation seit 1933 - Verhandlungen über Kontinuität (Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 25), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2007, 211 S., geb., 54,00 €.
Mit dem einprägsamen, allerdings in seiner genauen Abgrenzung etwas unscharfen Begriff der Familiensozialisation wollen die Herausgeber eine eindimensionale Generationengeschichtsschreibung überwinden, welche die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in eine Abfolge von Einheiten zerstückelt und scharfe Brüche zwischen den aufeinander folgenden historischen Generationen behauptet. Über eine genaue Untersuchung der Weitergabe von Erziehungspraktiken und Familienkonzeptionen zwischen den Generationen wollen sie demgegenüber einen Beitrag zum Verständnis langfristigen kulturellen Wandels über generationelle Grenzen hinweg leisten. Die Aus- und Nachwirkungen des Nationalsozialismus auf die familiale Sozialisation bilden das zentrale Thema des Bandes. Mit ihrem Plädoyer für eine neue Beachtung sozialisationshistorischer Fragen in der Zeitgeschichte wollen Gebhardt und Wischermann nicht nur generationenspezifische Blickverengungen und ,,Kommunikationssperren" zwischen den Generationen historiografisch aufheben, sondern auch eine erweiterte Sichtweise auf Kontinuitäten und Umbrüche in der Geschichte der Bundesrepublik etablieren. Demokratisierung und Liberalisierung von Erziehungsstilen und ein veränderter Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den Familien werden eng aufeinander bezogen.
Die Vielfalt unterschiedlicher Herangehensweisen an das Thema ist eine Stärke des Bandes, auch wenn sich nicht alle Beiträge an den Vorgaben der Herausgeber orientieren. In neuen Einzelbeiträgen untersuchen Historiker, Pädagogen, Soziologen, Psychologen und Literaturwissenschaftler unterschiedliche Facetten des Themas. Der Beitrag des Erziehungswissenschaftlers Ulf Preuss-Lausitz fügt sich am wenigsten in das Analyseraster der Herausgeber und repräsentiert in Vielem den von Gebhardt und Wischermann kritisierten pauschalen, generationengeschichtlichen Ansatz. Basierend auf älteren Untersuchungen stellt er vier ,,Körpergenerationen" des 20. Jahrhunderts einander gegenüber und entwirft eine Erklärung bundesdeutscher Demokratisierung aus körperhistorischer Perspektive. Die ,,Kontrolllücke" der unmittelbaren Nachkriegszeit, durch die sich Kinder und Jugendliche partiell der rigiden Erziehung ihrer Eltern entziehen konnten, habe eine Emanzipation der ,,Kriegs- und Nachkriegskinder" vom Körpermodell des - sehr holzschnittartig gezeichneten - wilhelminischen ,,Untertanen" ermöglicht und einer Durchsetzung von Formen ,,demokratischer Körpersozialisation" in der nachwachsenden Generation der ,,Konsumkinder" den Weg geebnet. Demgegenüber belaste neuerdings ein kontinuierlicher Zwang zur Selbsterfindung den Umgang mit Körperlichkeit in der Generation der ,,postmodernen" Kindheit. Preuss-Lausitz bietet viele interessante Beobachtungen über den Zusammenhang von Körpererziehung und Gesellschaftswandel. Seine weitreichenden Thesen und insbesondere die schroffe Abgrenzung der identifizierten Generationen bedürfen aber einer genaueren Überprüfung durch die historische Forschung. Wie fruchtbar eine kulturgeschichtlich erweiterte Sozialisationsforschung sein kann, zeigen die anregenden Aufsätze von Gudrun Brockhaus und Miriam Gebhardt, die sich beide mit dem einflussreichen Genre der Erziehungsratgeber auseinandersetzen. Brockhaus analysiert in einem ausgezeichneten Aufsatz Gründe für den Erfolg der populären Erziehungsbücher von Johanna Haarer während des Nationalsozialismus, die bis Kriegsende in mehreren hunderttausend Exemplaren Verbreitung fanden und auch nach 1945 Bestseller blieben. Brockhaus interessiert sich weniger für die nach 1945 gestrichenen, eindeutig politischen Passagen der als praktische Problemberater aufgebauten Bücher. Vielmehr untersucht sie Gründe für den Erfolg der Ratgeber und ihre impliziten, nicht minder politischen Entwürfe von Kindheit und Erziehung. Trotz ihres autoritären Duktus und ihrer Beschränkung der Frauen auf die Mutterrolle waren die Bücher für Frauen auch attraktiv, da sie ihre Stellung gegenüber der älteren Müttergeneration, den Ehemännern und auch den Kindern stärkte. Doch durch das Schüren existenzieller Schuldgefühle und Versagensängste angesichts eines als erbarmungslosen Kampf dargestellten Erziehungsprozesses schufen die Bücher eine soziopsychische Gefühlslage, welche die Projizierung und Externalisierung der eigenen Ängste auf Minoritäten nahe legte und damit wesentlich die Zustimmung zum rassistischen Programm der Nationalsozialisten erhöhte. Brockhaus' Befunde lassen den Erfolg der inhaltlich wenig veränderten Haarer'schen Bücher bis in die 1980er-Jahre hinein in einem beunruhigenden Licht erscheinen. Dieser Nachgeschichte der nationalsozialistischen Ratgeber widmet sich Miriam Gebhardt in ihrem erhellenden Beitrag. Sie zeigt die enorme Beharrungskraft der Haarer'schen Erziehungskonzepte und relativiert für den Bereich der Erziehung die Bedeutung der 1960er-Jahre als Reformjahrzehnt. Den anhaltenden Erfolg grundlegender Topoi des Ratgebergenres bis in die 1980er-Jahre hinein erklärt Gebhardt aus ihrer engen Verbindung mit der psychologischen Verfasstheit der ersten Nachkriegsgenerationen heraus. Die Beschreibung der Eltern als hilflose Opfer kindlicher Tyrannei und ein Verständnis des Aufwachsens als Behauptung gegen eine feindselige Welt fand Anklang bei Eltern, die sich selbst als unschuldige Opfer einer Tyrannei und Überlebende in widrigen Umständen verstanden. Das durch den amerikanischen Pädagogen Spock repräsentierte Gegenmodell einer permissiven Erziehung konnte sich in der Bundesrepublik, trotz einer gewissen Pluralisierung der Ratgeberlandschaft seit Anfang der 1960er-Jahre, erst sehr verzögert durchsetzen. Die Aufsätze von Markus Höffer-Mehlmer, der einen allgemeinen Überblick über die pädagogische Ratgeberliteratur der Bundesrepublik gibt, und von Andreas Lange, der sich mit dem Bedeutungsgewinn von Formen der Selbstsozialisation beschäftigt, bestätigen die These von den frühen 1980er-Jahre als eigentliche Umbruchszeit familialer Sozialisation. Lange argumentiert, dass insbesondere die Zunahme medialer Angebote den eigensinnig erschließbaren Bedeutungsraum für Kinder erheblich erweiterte. Die Familie verlor allerdings in dieser Situation nicht ihre wichtige Funktion im Sozialisationsgeschehen. Vielmehr gewann sie neue Bedeutung als Selektions- und Interpretationsinstanz der medialen Angebote.
Weitere Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit Einzelaspekten familialer Sozialisation. Lu Seegers präsentiert den Aufriss eines Forschungsprojektes zur Geschichte der Vaterlosigkeit in der Nachkriegszeit, in dem sie auf der Grundlage eines Vergleiches mit Großbritannien und Polen Sozial-, Medien- und Erfahrungsgeschichte verknüpfen will. Andreas Kraft deutet die Auseinandersetzung mit Vätern in der Literatur der 68er als Selbsttherapie und gleichzeitig als demokratische Emanzipation der Nachkriegskinder vom Nationalsozialismus, wobei allerdings die Literarizität der untersuchten Werke gegenüber ihrer Analyse als Ego-Dokumente der Autoren in den Hintergrund tritt. Im Rahmen eines historischen Sammelbandes unbefriedigend ist der Beitrag von Heinz Walter und Eva Rass zum Phänomen der ,,Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung" (ADHS). Die Autoren argumentieren zwar überzeugend, dass eine kulturhistorische Sicht auf die Verhaltensauffälligkeit sinnvoll ist, deuten aber selbst eine historische Kontextualisierung nur vage an. Insgesamt jedoch gelingt dem Sammelband eine vielversprechende Neuausrichtung der zeithistorischen Familien- und Sozialisationsforschung. Die meisten Beiträge demonstrieren überzeugend die Erkenntnischancen eines auf Familie und Erziehung fokussierten Zugriffs auf die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es wird die Aufgabe der zukünftigen Forschung sein, noch stärker auf eine internationale Einbettung der deutschen Entwicklungen zu drängen, um nationalspezifische politische Entwicklungen und generellere industrie- und konsumgesellschaftliche Trends in ihrem Wechselspiel noch genauer bestimmen zu können. Dabei wäre auch eine offensivere Diskussion der Ergebnisse der anglo-amerikanischen Forschung zu Familie und Kindheit wünschenswert, die im vorliegenden Band kaum eine Rolle spielt.
Till Kössler, München