Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Roland Thimme, Rote Fahnen über Potsdam 1933-1989. Lebenswege und Tagebücher, Verlag Hentrich & Hentrich, Berlin/Teetz 2007, 466 S., geb., 36,80 €.
Zeitgeschichte aus lokaler Perspektive - das ist der Grundgedanke, der dieser Studie zu Grunde liegt. Der Raum des Geschehens sind die Stadt Potsdam und der zeitweilig von ihr eingemeindete Ortsteil Bergholz-Rehbrücke. Dass der Autor selbst aus diesem Ort stammt, ist hier als bereicherndes Moment zu werten. Es wird spürbar, dass er viele örtliche, zeitliche und personenbezogene Details aus persönlichem Erleben kennt und sie sich nicht nur durch umfassendes Quellenstudium angeeignet hat. Auch die Tatsache, dass zu den bekannteren Persönlichkeiten dieses Ortsteils sein eigener Vater gehörte, der Historiker und Archivar Hans Thimme (1889-1945), darf als glücklicher Umstand angesehen werden. Dessen Tagebücher, biografische Quellen und mündliche Mitteilungen aus dem Umfeld von Familie und früherer Nachbarschaft bereichern die vom Autor für diese Studie ausgewerteten Materialien staatlicher, regionaler, kommunaler und kirchlicher Archive um einige Nuancen.
Im ersten Teil der Studie werden die gesellschaftlichen Veränderungen in Potsdam untersucht, die dort Hitlers Machtübernahme auslösten. Spielte doch gerade diese Stadt durch das Preußentum, das von Hitler am ,,Tag von Potsdam" augenfällig ausgeschlachtet wurde, eine besondere Rolle. Im März 1934 löste der NSDAP-Kreisleiter den bis dahin amtierenden deutschnationalen Oberbürgermeister ab und drängte als erstes die gewählten Stadträte zu Gunsten nationalsozialistischer Funktionäre aus dem Amt. Er plante den Ausbau Potsdams zu einer großen Havelmetropole und forcierte seine Bemühungen um die Eingemeindung zahlreicher bislang selbstständiger Orte, darunter auch von Bergholz-Rehbrücke.
Die 1933 einsetzende Gleichschaltung in diesem Ort, in dem auch schon vorher die NSDAP die stärkste politische Kraft gewesen war, bildet einen wesentlichen Teil der Studie. Führende Persönlichkeit in diesem Zusammenhang war der NSDAP-Ortsgruppenleiter Heinz Linck, Kriegsversehrter seit dem Ersten Weltkrieg, der im Ortsteil die Gleichschaltung durchzusetzen wusste. Dabei schreckte er nicht vor Denunziation zurück, so im Falle einer jungen Frau, die trotz der allgemeinen antisemitischen Ausgrenzungspolitik mit einer gleichaltrigen Jüdin befreundet war und blieb: Sie durfte deswegen auf Lincks Betreiben eine Krankenschwesternausbildung in der Evangelischen Diakonie nicht antreten. Linck spielte auch als Kirchenältester eine führende Rolle im evangelischen Gemeindekirchenrat und setzte sich mit Erfolg energisch für die Deutschen Christen ein. Im Gegensatz hierzu wandte sich ein beträchtlicher Teil der Kirchenbasis der Bekennenden Kirche zu - ein Riss ging durch die Gemeinde.
Ausführlich geht Thimme auf die Situation der Opfer des NS-Systems ein. Zwar regten sich in Potsdam und im eingemeindeten Nowawes 1933 zwei kommunistische Widerstandsgruppen, deren Aktivitäten im Laufe der Zeit jedoch nachließen. 1937 wurden etwa 100 Kommunisten verhaftet, viele von ihnen zu Zuchthausstrafen verurteilt. Im Ortsteil Bergholz-Rehbrücke wurden Kommunisten nicht behelligt, solange sie nicht auffielen. Bis auf einen, dessen Schicksal nach Einweisung in ein Arbeitslager im Februar 1945 ungeklärt blieb, überlebten alle die NS-Diktatur.
Zu den Opfern gehörten neben den vergleichsweise wenigen Akteuren des Widerstandes vor allem die jüdischen Mitbürger, die sogenannten ,,Mischlinge", und während des Krieges die ,,Fremdarbeiter" und Zwangsarbeiter. Als herausragendes Beispiel sei hier auf das Schicksal der Familie des Gerhard Bönicke verwiesen, dessen Frau Alice ,,Volljüdin" war. Sie hatte auf dem Postamt beim Ausfüllen eines Formulars den für weibliche Juden vorgeschriebenen zusätzlichen Vornamen ,,Sara" nicht verwendet, was von einer Nachbarin sofort denunziert wurde. Trotz ihrer durch ihre Ehe mit einem Nicht-Juden ,,privilegierten" Stellung wurde sie unter nicht ganz geklärten Umständen verhaftet und 1943 in Auschwitz ermordet. Grausam gingen NS-Stellen mit Zwangsarbeitern um. Ein Ukrainer, der eine Bauerntochter belästigt haben sollte, wurde an einer Kiefer aufgehangen. Im Laufe des Jahres 1944 häuften sich unter den Zwangsarbeitern Fälle von Renitenz und erste Anzeichen organisierten Widerstands.
Interessant sind die in der Studie dargestellten Beispiele dafür, wie sich Vertreter des gehobenen Bürgertums zum NS-Regime stellten. Zur Illustration des erlebten Kriegsgeschehens bringt der Autor Auszüge aus dem Tagebuch seines Vaters. Sie machen die von Anfang an bestehende Distanz und den zunehmenden Abscheu gegen das NS-Regime deutlich und belegen klar, wie viele aufmerksame Bürger über die NS-Verbrechen und während des Krieges von der ,,Endlösung" wussten oder wissen konnten. Andererseits finden sich unter den Eintragungen aus der Kriegszeit noch Versatzstücke der NS-Propaganda, die bei einem aufmerksamen und weitsichtigen Mann wie Hans Thimme überraschen.
Die Studie geht ein auf die letzten Kriegswochen in Potsdam, den Einmarsch der Sowjets mit allen Begleiterscheinungen wie Zerstörungen, Plünderungen und Vergewaltigungen. In den folgenden Jahren ging die Besatzungspolitik nahtlos über in den Beginn der SED-Herrschaft. Die Entnazifizierung von Verwaltung und Schule, die Bodenreform, die Bildung neuer Parteien, die antifaschistische Kultur- und sozialistische Kirchenpolitik und andere Aspekte der veränderten Machtverhältnisse werden aus der Perspektive der Stadt Potsdam und ihres inzwischen wieder ausgegliederten Ortsteils Bergholz-Rehbrücke dargestellt.
Die Studie versucht, die Kontinuität der Geschichte, wie sie sich aus der Perspektive eines Ortes widerspiegelt, am Beispiel einiger namhafter Bürger herauszuarbeiten. Gerhard Bönicke, Ehemann der in Auschwitz ermordeten Alice, trat trotz bürgerlicher Herkunft in die SED ein, avancierte zum GI (bzw. IM) und schließlich zum Offizier der Staatssicherheit. Der deutschnationale Archivar und 1937 reaktivierte Offizier Otto Korfes, der in sowjetische Gefangenschaft geriet und sich dort dem Nationalkomitee Freies Deutschland anschloss, engagierte sich als Funktionär der NDPD für die DDR, obwohl ihm in Personalgutachten regelmäßig mangelndes ,,Klassenbewusstsein" vorgehalten wurde. Und der evangelische Kirchenjurist Kurt Grünbaum, der trotz seiner jüdischen Abstammung die NS-Zeit überlebt hatte, geriet als Mitglied der (Ost-)CDU immer wieder ins Visier des SED-Regimes, wurde mehrfach angeklagt und verurteilt.
Diese Lebenswege zeigen die Brüche in den Biografien Potsdamer Bürger auf, die durch die zwei Diktaturen verursacht worden waren. Dabei arbeitet der Autor im Schlusswort klar die Unterschiede heraus: Während das NS-Regime zumindest anfangs auf eine breite Zustimmung stieß, die ihm die Mobilisierung und zunehmende Gleichschaltung erleichterte, stützte sich die SED auf die ungeliebte sowjetische Besatzungsmacht. Unabhängig von der zeitlichen Dauer beider Regime war dies wohl ein entscheidender Unterschied, der auch ihr jeweiliges Ende bestimmte. Während die NS-Herrschaft nur durch fremde Mächte zerstört werden konnte, war es in der DDR möglich, durch friedliche Bürgerproteste dem Regime ein Ende zu bereiten.
Im Anhang des Buches sind Tagebuchaufzeichnungen zweier Potsdamerinnen aus den Jahren 1945 bzw. 1945-49 veröffentlicht, die aus ganz privater und subjektiver Sicht die Jahre des Umbruchs illustrieren. Beide gehörten unterschiedlichen Generationen an und entstammten verschiedenen Milieus, hatten aber gemeinsam die vorurteilsfreie, allerdings auch unreflektierte Sicht auf das aktuelle Geschehen und auf die politischen Ursachen, die zur NS-Diktatur, zum Zweiten Weltkrieg und auch zur Zerstörung Potsdams und ihrer angestammten Lebenswelt geführt hatten.
Die Studie von Roland Thimme ist auf der Grundlage umfassender Quellenstudien sorgfältig recherchiert, treffsicher im Urteil und dabei spannend geschrieben. Sie spiegelt 56 Jahre Zeitgeschichte am Beispiel einer einzelnen Stadt wider und ist doch repräsentativ für zahlreiche Aspekte der deutschen Geschichte insgesamt. Das Buch ist daher über den lokalen Rahmen hinaus einem breiten, historisch interessierten Leserkreis zu empfehlen.
Patrik von zur Mühlen, Bonn