ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Reiner Tosstorff, Profintern. Die Rote Gewerkschaftsinternationale 1920-1937, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2004, 791 S., geb., 99,00 €.

Die Beschäftigung mit der Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte hat nicht gerade (Hoch-) Konjunktur. Dabei sind, trotz intensiver Forschung seit den 1960er-Jahren, auf diesem Gebiet viele Lücken geblieben. Und dass, obwohl sich insbesondere nach den Umwälzungen um 1990 zahlreiche neue Untersuchungsmöglichkeiten eröffneten - auch im wörtlichen Sinne bezogen auf die Zugänglichkeit von Archiven. Reiner Tosstorff hat nun mit seiner Gesamtgeschichte der Roten Gewerkschaftsinternationale (RGI) ein Desiderat beseitigt und gezeigt, was gegenüber dem bisherigen Forschungsstand mit Hilfe nun zugänglicher Quellen zu erreichen ist. Die Rote Gewerkschaftsinternationale, auch abgekürzt Profintern, wurde bislang als der gewerkschaftliche Arm der Kommunistischen Internationale (Komintern) behandelt. Die kommunistische Gewerkschaftspolitik erschien einerseits als Spielball der Richtungskämpfe in der kommunistischen Bewegung, andererseits wurde der Stellenwert gewerkschaftlicher Arbeit angesichts der revolutionären Politik der Kommunisten und ihrer zahlreichen Wendungen eher gering eingeschätzt. Der Autor kann zunächst Traditionen in der internationalen Gewerkschaftsgeschichte und in den Auseinandersetzungen mit dem gewerkschaftlichen Internationalismus aufzeigen, die nicht zuletzt in die internationale Gewerkschaftsspaltung hineinführten. Vor diesem Hintergrund spielte dann die RGI in ihrer Entstehungsphase und Anfangszeit auch eine eigenständige Rolle. Sie besaß als ,,organisatorische Zusammenfassung des kommunistischen Gewerkschaftseinflusses auf internationaler Ebene" durchaus eigenes Gewicht. Hier war der zentrale Ort der Auseinandersetzung zwischen den Bolschewisten und den Syndikalisten, die sich wiederum scharf von den sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften abgrenzten.

Die RGI war bei ihrer Gründung nach dem Ersten Weltkrieg ein Bündnis zwischen den Bolschewisten und den revolutionären Bewegungen. Dabei waren die Syndikalisten mit ihren Traditionen seit der Jahrhundertwende - in den revolutionären Auseinandersetzungen - zu einem Sammelbecken für Protestbewegungen, Gewerkschaftskritiker, antietatistische, antireformistische sowie antiparlamentarische Strömungen geworden. Diese Gründungsgeschichte, vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen Sozialisten und Kommunisten und die Verbindung mit den Syndikalisten, erklärt auch die Auseinandersetzung ,,Moskau oder Amsterdam" zwischen der in Moskau residierenden Profintern und dem in Amsterdam residierenden Internationalen Gewerkschaftsbund. Dieser Konflikt wurde ein prägendes Element der RGI-Entwicklung. In ihrer Anfangsphase konnte die RGI damit durchaus eine Ausweitung des Einflusses der Kommunisten unter der von revolutionären Erwartungen und Hoffnungen geprägten Arbeiter- und Gewerkschaftsmitgliedschaft erreichen. Der Autor bietet eine ausführliche Darstellung der Entwicklungen zentraler gewerkschaftlicher Organisationen in den verschiedenen Staaten an. Insofern finden sich in Tosstorffs Buch auch Beschreibungen zur Geschichte der kommunistischen und syndikalistischen Bewegungen in den zentralen Industriegesellschaften Europas sowie Amerikas und darüber hinaus zentrale Aspekte der Geschichte der frühen Sowjetunion und der kommunistischen Bewegung.

Die ideologischen Debatten machen eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Richtungen und Flügeln der politischen und gewerkschaftlichen Bewegungen und Organisationen notwendig. Jenseits dieser Auseinandersetzungen wird in Bezug auf die Arbeiterbewegungsgeschichte - vor dem Hintergrund der Untersuchung von Tosstorff - noch einmal die Frage nach Denk- und Verhaltensweisen der Basisbewegungen auf breiter Quellengrundlage aufzugreifen sein. Hinter der Profintern standen oft wenig stabile Verbände, die sich aus einer von überschäumenden Hoffnungen beseelten, sozialrebellischen Bewegung speisten. Angeführt wurde sie von einer kleinen Gruppe linker Intellektueller. Diese Verbände gilt es auf nationaler und regionaler Ebene in sozialgeschichtlicher Perspektive zu betrachten und dabei auch die Anhängerschaft in den Blick zu nehmen.

Der Einfluss der Syndikalisten in der RGI wurde bis zur Mitte der 1920er-Jahre, parallel zur Stalinisierung der kommunistischen Bewegung, zurückgedrängt. Damit verlor die RGI an Eigenständigkeit und wurde mehr und mehr zum gewerkschaftlichen Arm der kommunistischen Bewegung, der allerdings nur unter Schwierigkeiten die frühere soziale Basis, ,bei der Stange halten' konnte. Die RGI wurde jetzt instrumentalisiert für die Strategien der sowjetischen Politik unter Stalin. Ihre gewerkschaftlichen Funktionen traten immer stärker zurück. Die Ein- und Unterordnung der RGI in bzw. unter die Entwicklungsrichtung der kommunistischen Bewegung zeigte sich bei der Auflösung der RGI 1937, als sie nicht länger zur Strategie und Taktik der von der stalinisierten Partei dominierten kommunistischen Bewegung passte.

Reiner Tosstorff hat mit seiner Geschichte der Roten Gewerkschaftsinternationale ein Standardwerk vorgelegt, an dem keine Analyse zur Gewerkschaftspolitik wie zur Politik der Arbeiterbewegung in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vorbeigehen kann.

Stefan Goch, Gelsenkirchen


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