ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Werner Thönnessen, Mein Tor zur Welt. Ein Lebensweg als Gewerkschafter und Intellektueller, VSA-Verlag, Hamburg 2005, 214 S., kart.,16,50 €.

Bis heute fehlt eine umfassende und geschichtswissenschaftlich valide Darstellung zur Organisationsgeschichte der IG Metall. Eher in biografischen Arbeiten oder durch Einzelaspekte ist die Rolle dieser größten Gewerkschaft der 'alten' Bundesrepublik mit tarifpolitischer Leitfunktion beleuchtet worden. (1) Die Erinnerungen eines engen Mitarbeiters des charismatischen IG Metall-Vorsitzenden Otto Brenner dürfen daher auch auf Interesse in der Geschichtswissenschaft stoßen. Werner Thönnessen gehörte seit Ende 1957, als einer der ,,linksozialistischen Intellektuellen" der IG Metall, mit Fritz Opel und Olaf Radke zum engsten Beraterstab von Otto Brenner. (2) Von 1972 bis 1989 war Thönnessen stellvertretender Generalsekretär des Internationalen Metallarbeiterbundes (IMB) in Genf. Die Erinnerungen lassen Einblicke in die inneren Machtstrukturen der IG Metall erwarten. Entsprechend nehmen diese Passagen auch den umfangreichsten Teil im Buch ein.

Thönnessen hatte sich bewusst für die Arbeit in der Gewerkschaft entschieden, der Weg dorthin war nicht vorgezeichnet gewesen. Als Sohn eines saarländischen Unternehmers 1929 geboren, prägte ihn nach dem Ende des Nationalsozialismus die von ihm so genannte persönliche ,,Resozialisierung", eine tiefe Verstörung über seine Begeisterung, die er als Jugendlicher für den Nationalsozialismus empfunden hatte. Dazu gehörten auch Konflikte mit dem Vater über dessen Verstrickung in das Regime. Thönnessen studierte ab 1949 Medizin in Paris und Mainz. Bereits in Saarbrücken war er in Kontakt mit Angehörigen der ,,Jeunesse Etudiante Chrétienne" gekommen. Linkskatholisch orientiert, suchte er in dieser internationalen Gruppe Einfluss zu nehmen. Nach Auseinandersetzungen um seine politischen Vorstellungen in Mainz wandte er sich enttäuscht vom Linkskatholizismus ab und studierte Soziologie in Frankfurt am Main, wo er Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) wurde. Nach einer Promotion bei Adorno 1957 entschied er sich gegen eine wissenschaftliche Karriere und wurde Mitarbeiter in der Frankfurter Hauptverwaltung der IG Metall. Hier sah er die Möglichkeit, einen emanzipatorisch gestaltenden Einfluss auf die Bundesrepublik zu nehmen.

Als persönlicher Referent arbeitete Thönnessen Otto Brenner direkt zu. Seine Vertrauensstellung wurde dadurch ausgebaut, dass er nach der Entlassung Kuno Brandels aus dem Vorstand 1962 dessen Aufgaben zur Öffentlichkeitsarbeit für die IG Metall übernahm. Thönnessen macht deutlich, dass er auf eine Professionalisierung der Pressearbeit setzte und mittels mehrerer wissenschaftlicher Studien die Bedingungen für gewerkschaftliche Pressearbeit auslotete. Durch seine zielgerichtete Öffentlichkeitsarbeit hat er sicherlich eine effektivere Außendarstellung der IG Metall mit vorangebracht. Thönnessen stand als Person und von seinen Interessen her für eine angestrebte Kooperation der Gewerkschaften mit Studierenden zur Abwehr der Notstandsgesetze oder mit der Neuen Linken bei Kampagnen wie zur Freilassung von Heinz Brandt. Teile der Gewerkschaft suchten die Auseinandersetzung mit kritischen Intellektuellen und der sich herausbildenden Neuen Linken. Allerdings gab es seitens des Funktionärsapparats auch erhebliche Vorbehalte gegen diese Orientierung und einen zu starken Einfluss von Intellektuellen - ein Konfliktfeld, das Thönnessen jedoch kaum beleuchtet.

Thönnessen rechtfertigt in seinen Erinnerungen die Politik der IG Metall und nimmt strukturelle Konflikte weniger in den Blick. Vielmehr betont er zu Recht die wichtige Rolle, welche die IG Metall bei der Frage des technischen Fortschritts einnahm. Die Gewerkschaft war mit dem Vorwurf konfrontiert, gesellschaftspolitischer ,Blockierer' zu sein. Tatsächlich hat sich die IG Metall als sozialer Akteur der industriellen Beziehungen sehr früh auf die Fragen der Automation und Rationalisierung konzentriert, die Thönnessen anhand einiger Tagungen im Buch darlegt. Das ,,Rationalisierungsschutzabkommen" vom Mai 1968 führte zu einer Regelung mit der Arbeitgebeseite Gesamtmetall, in dem die Arbeitnehmer durch Arbeitsplatzgarantien und Bestandsschutz bei Rationalisierungen vor willkürlichen Entlassungen geschützt wurden.

Bei der Lektüre des Buches wird deutlich, dass die IG Metall trotz manch heftiger Auseinandersetzungen auf den Ausgleich mit dem Arbeitgeberlager aus war, um materielle Verbesserungen für die Arbeitnehmer zu erreichen. Thönnessen hat dies selbst mit vorangetrieben, zum Beispiel mit einer ersten gemeinsamen Pressekonferenz von IG Metall und Gesamtmetall 1964, als die Einigung über die Verfassungsklage der Metall-Arbeitgeber gegen die Urabstimmung im Streik 1957/58 bekannt gegeben wurde. Dem waren zweijährige Geheimverhandlungen vorausgegangen.

Dass Thönnessen den machtzentrierten Strukturen der IG Metall nicht fernstand, zeigte sich bei seinem Wechsel zum IMB. Thönnessen ging nach Absprache mit Brenner nach Genf, um vom Posten des stellvertretenden Generalsekretärs zum Generalsekretär aufzusteigen. Dafür sollte die Präsidentschaft nicht mehr von einem deutschen Gewerkschafter ausgeübt werden. Nach dem plötzlichen Tod von Otto Brenner im März 1972 hielt sich sein Nachfolger Eugen Loderer nicht an die Absprache und wurde Präsident des IMB, wodurch Thönnessen nur stellvertretender Generalsekretär bleiben konnte. Diese Tätigkeit übte er bis zur vorzeitigen Verrentung 1989 aus. Thönnessen beschreibt diese Vorgänge offen und deckt so Problematiken der ,,konsultativen Kooptation" innerhalb der Gewerkschaften auf. Die biografisch prägende Episode belegt zugleich die große Distanz, die Thönnessen zu Loderer hatte.

Die Erinnerungen sind zwar chronologisch aufgebaut, besitzen aber keine systematische Entwicklung. Es sind eher Anekdoten und Splitter zu einzelnen Phasen seiner Tätigkeiten, verbunden mit vielfältigen Anspielungen und Angriffen auf die gegenwärtige neoliberale Politikorientierung, die Thönnessen scharf kritisiert. Zugleich betont er seine Prägung durch die antifaschistischen Gewerkschafter, denen er - wie Alois Wöhrle oder Fritz Opel - kleine biografische Skizzen widmet, die jedoch mehr als persönliche Ehrung zu lesen sind. Es ist zugleich ein Hinweis darauf, dass dieser Angehörige der ,,Flakhelfergeneration" einen anderen Weg wählte als viele seiner Altersgenossen in der Bundesrepublik.

Mit den Passagen zur Arbeit im IMB, die Thönnessen ebenfalls an einigen Schwerpunkten, wie Südafrika oder Türkei/Griechenland, entwickelt, legt er erste Spuren für eine intensivere Beschäftigung mit der internationalen Gewerkschaftspolitik in den 1970er- und 1980er-Jahren, die es sich lohnen dürfte, näher zu untersuchen.

Die Erinnerungen in ,,Tor zur Welt" sind eher als engagierte Stimme eines führenden gewerkschaftlichen Vertreters zu lesen, der aus heutiger Sicht die damalige Politik rechtfertigt und als Orientierung verstanden wissen möchte. Das ist für die gewerkschaftspolitische Diskussion spannend, der historiografische Ertrag dadurch jedoch geschmälert, denn die Erinnerungen Thönnessens sind nicht ganz frei von Ressentiments und Zuspitzungen. Als Motiv für seine Erinnerungen nennt Thönnessen die positive Beeinflussung der Jugend und verortet seine Arbeit explizit als Beitrag für die aktuelle Debatte (S. 21). Dieser Anspruch wird eingelöst, leider manchmal zu Ungunsten einer stärkeren Reflexion politischer und historischer Prozesse. Für eine Beschäftigung mit der IG Metall in den 1960er-Jahren oder dem IMB bietet das Buch mit seinen stark subjektiven Rückblicken jedoch eine Orientierungshilfe. Eine einordnende Skizze des Herausgebers Jens Becker und ein sympathisierendes Vorwort von Oskar Negt runden das Buch ab.

Knud Andresen, Hamburg

Fußnoten:


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