Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Freia Anders/Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols. Recht und politisch motivierte Gewalt am Ende des 20. Jahrhunderts (Historische Politikforschung, Bd. 3), Campus Verlag, Frankfurt/Main/New York 2006, 278 S., kart., 29,90 €.
,,Gewalt ist ein umkämpfter Begriff". So beginnt der Prolog zu dem Sammelband ,,Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols. Recht und politisch motivierte Gewalt am Ende des 20. Jahrhunderts", dessen Herausgeberinnen sich zum Ziel gesetzt haben, ,,Entwicklung, Ereignis- und Diskurszusammenhänge [vorzustellen], die zum größten Teil noch nicht abgeschlossen sind." Da also ein einheitlicher analytischer Bezugsrahmen noch fehlt, sollte man die Beiträge aus der Rechtswissenschaft bzw. der Kriminologie, Soziologie, der Geschichtswissenschaft und der Literatur- bzw. Theaterwissenschaft als erstes Ergebnis eines interdisziplinären Arbeitsprozesses lesen, geschrieben in dem Bemühen, eine Verschiebung des aktuell stark normativen Gewaltdiskurses herbeizuführen. Der Sammelband verlangt also das ,,Denken ohne Geländer", um eine Metapher zu benutzen, die Hannah Arendt einmal zur Beschreibung intellektueller Suchprozesse benutzt hat. Um sich nicht ohne jeglichen Halt auf den Weg zu machen, geben die Herausgeberinnen folgenden Orientierungsrahmen vor: Ausgehend von der Gewalt als Gestaltungsprinzip gesellschaftlicher Verhältnisse, wird eine Unterscheidung von öffentlicher, privater und politisch motivierter Gewalt vorgenommen. In der Kritik des staatlichen Gewaltmonopols markiert vor allem die Körperlichkeit eine diskursive Grenzziehung; handlungs- und diskurstheoretische Überlegungen werden ergänzt um die Explikation entsprechender juristischer Definitionsstrategien.
Dieter Grimm arbeitet sowohl die Entstehung als auch die Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols heraus. Um die Begrenzung legaler Gewalt durch das internationale Recht geht es im Beitrag von Ulrich K. Preuß. Innerstaatliche Begrenzungen der Exekutive thematisieren Annette Keilmann und Ulrich Falk am Beispiel des Streits um den polizeilichen Einsatz von Folter und deren Definition als legitime oder aber illegitime Praxis. Wie unzureichend die akademischen Zugänge zu einer Analyse der terroristischen Gewalt infolge des 11. Septembers 2001 sind, zeigen die Beiträge von Hans-Peter Müller und Lorenz Schulz. Während Müller die These vom Kampf der Kulturen genauer unter die Lupe nimmt und diesen nicht etwa als Ursache, sondern als Folge mangelnden, beziehungsweise fehlgeleiteten politischen Handelns verortet, verweist Schulz auf das aus dem ,,labeling approach" resultierende Theorieproblem einer Kriminologie der Gewalt. In Auseinandersetzung mit der Makrokriminalität plädiert er für eine Kritik der Gewalt und die Macht des Rechts. Die Verkörperlichung der Gewalt als diskursive (Strafrecht) und nicht diskursive (Verletzungs- und Schmerzerfahrung) Praxis wird in den Beiträgen von Dierk Helmken (Sitzblockadenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts) und Franziska Schößler (theatralische Inszenierung der Gegenwartsdramen von Elfriede Jelinek und Sarah Kane) herausgearbeitet. Mit der Rolle von Gewalt innerhalb der Transformationsstrategien der Neuen Linken beschäftigen sich schließlich die Beiträge von Ingrid Gilcher-Holtey (die ,,68er") und Freia Anders (die ,,Autonomen").
Die beiden zuletzt genannten Beiträge setzen ausdrücklich einen neuen Akzent in der ansonsten etwas homogenen Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung und ihren Folgen. Die Aufarbeitung dieses Kapitels der Geschichte mit Fokus auf die Bundesrepublik wurde maßgeblich initiiert vom Hamburger Institut für Sozialforschung und dominierte in einer Art Schnellschuss eine Zeit lang auch die öffentliche Debatte. Frühere Arbeiten von Gilcher-Holtey beispielsweise zum Mai 1968 in Paris wurden hier wenig rezipiert. Zwar haben sich inzwischen weitere akademische Institutionen des Themas angenommen, z.B. das Potsdamer Institut für Zeitgeschichte, aber außer der Einbeziehung kulturgeschichtlicher Ansätze - beispielsweise durch den Rekurs auf mediale Repräsentationsformen - sind auch hier bislang keine wirklich neuen, provokanten bzw. kontroversen Interpretationen vorgeschlagen worden. Hegemoniale Deutungsmuster blieben bestehen, und der Gewaltausübung wurde ,,Motiv- und Sinnlosigkeit unterstellt" (Gilcher-Holtey, S. 200). Anliegen der 1968er-Bewegung war es jedoch, nicht die Macht zu erobern, sondern diese zu überwinden. Durch Regelbruch sollten Regeländerungen erzielt werden; es handelte sich demnach durchaus um einen sinngesteuerten Prozess, gar mit pädagogischem Impetus: ,,Unter Rückgriff auf den Begriff der Gewalt wurden Situationen und Ereignisse skandalisiert und dramatisiert." (S. 217) Zunehmend fanden direkte Protestformen Eingang in die politische Kultur der Bundesrepublik, und zwar unter Verweis auf das Demonstrationsrecht, ein naturrechtlich begründetes Widerstandsrecht oder auf die Notwendigkeit von Gegengewalt in einer massiven Unterdrückungssituation. Der Terminus ,,Militanz", der die Debatten um die Zeitschrift ,,Radikal" prägte, brachte nach Freia Anders diese für die Autonomen grundlegende ,,Einstellung, nach der gewaltförmige Aktionen legitim sind", auf den Punkt (S. 225f. und S. 233). Beide Autorinnen ziehen eine positive Bilanz des politischen Aktionismus: Eine so angewandte Gewalt habe auf die bislang unbekannte Gewaltförmigkeit der Verhältnisse (strukturell und symbolisch) aufmerksam gemacht (Gilcher-Holtey) und in der Folge zur Erweiterung der politischen Partizipationsangebote geführt (Anders). Das staatliche Gewaltmonopol wurde antastbar - damit schließt sich der Kreis, denn bereits eingangs wurde das ,,staatliche Gewaltmonopol" als Pleonasmus dekonstruiert: ,,Sobald es einem Herrschaftsverband gelingt, die Gewalt zu monopolisieren, verwandelt er sich eben dadurch in einen Staat", sprich: wenn das Gewaltmonopol fehlt, besteht kein Staat.
Spannend ist in diesem Zusammenhang, sich mit dem Verhältnis von Macht und Gewalt auseinanderzusetzen. Lorenz Schulz tut dies explizit, jedoch nicht im Benjamin'schen Sinn einer ,,Kritik der Gewalt", sondern unter Bezugnahme auf die diskursethischen Prämissen von Jürgen Habermas bzw. das aufklärerische Denken von Hannah Arendt. Eine direkte Bezugnahme auf den Machtbegriff der Foucault'schen Diskurstheorie findet sich in den Beiträgen von Gilcher-Holtey über die Neue Linke und von Schößler über Gewalt und Macht im Gegenwartsdrama. Möglicherweise deutet sich in dem Rückgriff auf Foucault ein theoretischer Bezugrahmen an, der in der Lage wäre, die verschiedenen disziplinären Zugänge zu integrieren. Dies würde auch auf methodischer Ebene die Anwendung der Diskursanalyse nahe legen und damit eine neue Ausrichtung der spezifischen Instrumente und Arbeitsweisen der verschiedenen Disziplinen, insbesondere der historischen und der juristischen (1), erforderlich machen. Gewalt als Dispositiv zu betrachten würde bedeuten, die Begriffe öffentlich, privat und politisch nicht länger in Widerspruch zueinander zu stellen, sondern als Teil eines die diskursiven und nicht-diskursiven Ebenen umfassenden Beziehungsnetzes zu analysieren. Anknüpfend an die Überlegungen, die Gilcher-Holtey in ihrem Beitrag über die Neue Linke entwickelt, würde eine solche Analyse der Gewalt theoretische Aussagen über (Gegen-)Macht ermöglichen und damit den akademischen Diskurs über die 68er mit Auskünften über Verschiebungs- und Gestaltungspotenziale sowie politische Produktivität in dem letzten Viertel des letzten Jahrhunderts bereichern. Die Weichen dafür sind mit diesem Buch gestellt.
Anne Klein, Köln
Fußnoten:
1 Vgl. zur Rechtswissenschaft und -theorie Christian Schauer, Aufforderung zum Spiel. Foucault und das Recht, Köln 2006.