Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Im 21. Jahrhundert bedarf es nach wie vor geistiger Seismografen, die zuverlässig verzeichnen, ob offene demokratische Gesellschaften mit inneren Konflikten und äußeren Gefährdungen so umgehen, wie es ihren postulierten Freiheitswerten entspricht. Womöglich stehen nicht zuletzt solche Einschätzungen hinter den zahlreichen Neuerscheinungen, die derzeit zur ,,Intellektuellengeschichte" vorgelegt werden. Dabei stehen Gangolf Hübingers Aufsatzsammlung und der von Ingrid Gilcher-Holtey herausgegebene Sammelband für die unterschiedlichen Zugriffe und Analysereichweiten, die sich hinter dem konzeptionellen Dachbegriff verbergen.
Gangolf Hübinger stellt die Quintessenz eigener Forschungen zu diesem Thema seit 1998 in einer Art historischen Anthologie vor. Von den drei Texten zum 19. und fünf weiteren zum frühen 20. Jahrhundert hat Hübinger bereits sieben Aufsätze andernorts veröffentlicht. Gerahmt von einer thematischen Einführung und Schlussbetrachtung entwickelt Hübinger jetzt aber noch einmal eine historische Langzeitperspektive: Der liberale Historiker und Paulskirchenabgeordnete Georg Gottfried Gervinus wird als frühes Exempel des Gelehrten-Intellektuellen und kritische Instanz im Umfeld der steckengebliebenen Revolution eingeführt (1. Kap.). Im vorangeschrittenen 19. Jahrhundert firmiert Theodor Mommsen als zeitgenössisch ungleich stärker rezipierter Althistoriker mit parteipolitischem Mandat (S. 3). Max Weber erscheint in einer neu für den Band verfassten Studie wenige Dekaden später als Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik (S. 5), der, wie nach ihm besonders Ernst Troeltsch (S. 7) mit einer dann dezidiert christlichen Prägung, die prekäre Doppelrolle des Gelehrten-Intellektuellen zum gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsthema objektivierte. Im historischen Schicksal Rudolf Hilferdings und Gustav Radbruchs (S. 8) fängt Hübinger schließlich ein, wie die sozialdemokratischen Gelehrten-Intellektuellen unter den Bedingungen der rasch erodierenden Weimarer Demokratie an den Rand einer immer autoritärer durchsetzten Öffentlichkeit gerieten. Die biografisch zugespitzten Kapitel verbindet Hübinger mit problemgeschichtlichen Überlegungen zu den epochenspezifischen Hauptthemen gelehrt-intellektueller Diskurse und schildert dann die Auseinandersetzung mit der Wirkungsmacht der kapitalistischen Wirtschaftsordnung (S. 4) ebenso wie das Einsickern völkischen Gedankenguts in die intellektuellen Voten während der Dreißigerjahre (S. 6).
Wenn Hübinger die Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert noch einmal als paradigmatische Orientierungsdisziplin und wissenschaftlichen Argumentationshintergrund im tagespolitischen Diskurs identifiziert (S. 2), wünscht man sich gelegentlich noch systematischere Überlegungen zu der Frage, in welchem Maße Gelehrte-Intellektuelle anderer disziplinärer Provenienz sich gegebenenfalls typologisch und veränderlich - innerhalb von Hübingers Beobachtungszeitraum - von den in den Leitdisziplinen verwurzelten Intellektuellen unterschieden. Auch wird die ,,Kernzeit der kulturellen Moderne" (S. 14) um eine Art intellektuellengeschichtliche Inkubationsphase bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erweitert, aber die europäische Dimension dieses Befundes in einem auf die deutsche Entwicklung fokussierten Buch naturgemäß nur angedeutet. Auf eine europäische Darstellung dieses Phänomens muss daher weiter gewartet werden. Fraglos wirbt Hübinger mit diesem Band eindrucksvoll für eine moderne Historiografie der ,,Gelehrten-Intellektuellen" als berufsbedingt kommunikationsstarke und zugleich zivilbürgerlich aktive und meinungsfreudige Sinndeutungsexperten. Diese ist in der konzeptionellen Schnittmenge von ,,Intellektuellen-" und ,,Wissenschaftsgeschichte" angesiedelt. Dort findet sie, so beweist es der Band, gerade nicht als ideengeschichtliche Gipfelwanderung und Rekonstruktion elitärer Doxa statt, sondern begreift das vermehrte intellektuelle Engagement der Gelehrten als Symptom für den ,,Strukturwandel der Öffentlichkeit" und die dynamische Veränderung politischer Kommunikationsräume, die sich schließlich um 1930 drastisch verengten und die kritischen Intellektuellen ausschlossen.
Ingrid Gilcher-Holteys Sammelband verlegt sich demgegenüber stärker auf eine europäische, hier vor allem Deutschland, Frankreich, die Schweiz und Italien umfassende Sicht im fortschreitenden 20. Jahrhundert. Dabei nimmt sie sich nicht die bei Hübinger prominenten Historiker, Soziologen, Ökonomen oder Rechtswissenschaftler, sondern insbesondere Literaten und Literaturkritiker vor. Diese Gewichtung erklärt sich aus dem Umstand, dass Gilcher-Holtey zwar mit einer Zusammenschau verfügbarer intellektuellengeschichtlicher Konzepte anhebt, viele Autoren aus der deutsch-französischen Forschergruppe aber das soziologische Intellektuellen-Modell Pierre Bourdieus favorisieren. Den Fluchtpunkt der Beiträge bildet daher der gesellschaftskritisch intervenierende Künstler oder Schriftsteller Bourdieu'schen Typs, dessen autonome Denkart und Position auf dem Feld kultureller Produktion ihm überhaupt erst spezifische Autorität und öffentliche Mobilisierungskraft verleiht.
Folgerichtig entfallen von insgesamt 15 Beiträgen acht auf die von Bourdieu für unverzichtbar erklärte Untersuchung feldinterner Distinktionskämpfe, in deren Zuge die Literaten sich zunächst im Rahmen vorherrschender Konfigurationen auf dem Feld kultureller Produktion platzierten und um jene Autonomie rangen, die ihr intellektuelles Mandat erst glaubhaft machte. Literaten-Intellektuelle deutschen Typs während und nach dem Ersten Weltkrieg stellen etwa Steffen Bruendel im Blick auf Thomas und Heinrich Mann als ideenpolitische Antipoden und Ingrid Gilcher-Holtey anhand einer dichten Rekonstruktion von Berthold Brechts Konzept des ,,eingreifenden Denkens" in entsprechenden Selbstzeugnissen vor. Hervé Serry testet den Selbstanspruch auf ein intellektuelles Mandat bei französischen Vertretern der katholischen Literaturrenaissance zwischen 1880 und 1935. Ihm zufolge konnte dieser zeitgenössische Gegenentwurf zum säkularen ,,kritischen Intellektuellen" kaum gelingen, weil der katholische Orthodoxieanspruch auf dem religiösen mit dem Autonomieanspruch auf dem literarischen Feld unvereinbar blieb. Für die Zeit des Zweiten Weltkrieges erörtert Kristina Schulz (parallel zur später folgenden Studie von Dorothee Liehr zu Adolf Muschgs Plädoyer für eine neue Sichtbarkeit der Intellektuellen) einen Testfall anderer Art, indem sie zeigt, wie den umtriebigen Schweizer Denis de Rougement die politische, als 'aktiv' verstandene Neutralität seines Landes nicht an einer engagierten öffentlichen Intervention hinderte. Seine Haltung korrespondierte an vielen Stellen mit der von Henning Marmulla vorgestellten innovativen Intellektuellenstrategie deutsch-französisch-italienischer Schriftstellergruppen, die in den 1960er-Jahren am Projekt einer Zeitschrift als Forum transnationaler Gegenöffentlichkeit und kollektiven Protests gegen den Algerienkrieg scheiterten. Anna Boschetti setzt schließlich Bourdieu als Intellektuellen zu seiner eigenen Theoriebildung in Beziehung und widmet sich daher besonders seiner Etablierung als Intellektuellenfigur im Rahmen erfolgreicher Distinktionsstrategien (etwa die Abgrenzung vom Intellektuellentypus bei Foucault).
Illustriert der Band bis hierher, wie sich die Intellektuellen Europas zu verschiedenen Zeiten und innerhalb spezifischer Feldkonstellationen positionierten, lenkt er im zweiten Teil zusätzlich den Blick auf verwandte (Sub-)Felder der kulturellen Produktion. Ioana Popas Studie zur Weiterverbreitung osteuropäischer Literatur in Frankreich nach 1945 durch ein kommunistisch geprägtes Netzwerk von Übersetzern thematisiert eine Art doppelten Testfall. Dies geschieht indem sie nach den Austauschprozessen zwischen unterschiedlichen nationalen Literaturfeldern und vor allem über die ideologische Grenze des Ost-West-Konflikts hinweg fragt. Im Zuge der weiteren Beiträge verstärkt sich dann der bereits im ersten Teil entstandene Eindruck, dass nicht nur Fundamentalerfahrungen, wie die beiden Weltkriege, die Literatur mindestens zu vorübergehendem politischem Engagement drängten, sondern auch die sozialen Bewegungen der Sechzigerjahre. Deren Bedeutung für die Figur des Intellektuellen wird analysiert im Rahmen von drei Studien erstens zur gesellschaftspolitischen Agitation westdeutscher Theaterregisseure und Schauspieler von Dorothea Kraus, weiter zu Konflikten zwischen dem Verleger Siegfried Unseld und dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1967/68 von Claus Kröger sowie schließlich zum französischen Surrealismus als großem ästhetischem Umwertungsprojekt und literarischer Nachwehe zum französischen Mai von Boris Gobille. In einer Dreiersequenz von Beiträgen wird zuletzt nach Spuren des politischen Umbruchs von 1989/90 in der jüngeren deutschen Kulturproduktion gesucht. Markus Joch rekonstruiert die literaturkritischen Angriffe von Ulrich Greiner und Frank Schirrmacher auf Christa Wolf und Günter Grass als moralischen Instanzen in angeblich halbloyaler Nähe zum ostdeutschen Regime. Anders als bei den auf die Sechziger-Bewegungen bezogenen Analysen, tendieren abschließend Franziska Schößler beim Blick auf die repolitisierte (post)avantgardistische Aktionskunst der 1990er-Jahre und Heribert Tommek in seiner Besprechung westdeutscher Popliteratur dazu, die Genese des sozialpolitischen Theaters wie die popliterarische Entwicklung von der äußeren Umbruchserfahrung der frühen 1990er-Jahre zu entkoppeln.
Gelegentlich scheinen die Argumentationen aus dezidiert historischer Sicht noch einmal überprüft werden zu müssen, so etwa, wenn Gisèle Sapiro die Emanzipation des politisch exponierten Schriftstellers in Frankreich vom herrschaftsnahen ,,Hommes de lettres" auf das frühe 19. Jahrhundert verlegt, als eine reglementierte Öffentlichkeit mutmaßlich nur in beschränktem Maße jene Autonomisierungspotenziale bereithielt, auf die sich das intellektuelle Mandat gründen sollte. Auch hinterlässt der Band den Wunsch, Bourdieus Intellektuellenkonzept nicht nur für dezidiert literarische Kulturproduzenten, sondern für weitere Personenkategorien zu diskutieren und dabei - im Sinne des Anspruchs, 'europäisch' zu argumentieren - geografisch über den kontinentaleuropäischen Radius hinauszugehen.
Bei aller Unterschiedlichkeit im thematischen und konzeptionellen Zugriff illustrieren die Bände von Hübinger und Gilcher-Holtey vor allem, dass die Geschichtswissenschaft kaum Anlass dazu hat, den Intellektuellen als Forschungsobjekt tot zu sagen. Sie versprechen weiteren Erkenntnisgewinn bei der Beschäftigung mit dieser Symptomfigur. Denn deren Geschichte, besonders für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts im europäischen Maßstab allgemein und im Wechselverhältnis mit außereuropäischen Parallelgestalten, etwa aus transatlantischer Perspektive, ist noch zu schreiben. Ob etwa ihre republikanisch-laizistische Prägung die französische mehr als jede andere Gesellschaft dazu disponiert hat, den modernen Intellektuellen hervorzubringen, bleibt aus vergleichender Sicht weiter zu prüfen.
Helke Rausch, Leipzig