ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, Carl Hanser Verlag, München 2006, 1024 S., geb., 39,90 €.

Die Bedeutung Europas als Idee, Konstrukt und Realität hat nach dem Zweiten Weltkrieg stetig zugenommen, insbesondere nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Jetzt wuchs - nicht nur in Deutschland - zusammen, was zusammengehört. Doch es besteht eine gewisse Unsicherheit darüber, was hier zusammenwuchs und was Europa vereint.

Damit befasst sich die zurecht viel gelobte und hervorragend geschriebene Monografie von Tony Judt, der es auf geradezu meisterhafte Weise versteht, Gemeinsamkeiten europäischer Geschichte herauszuarbeiten, dabei auch nationale Entwicklungen zu behandeln und schließlich eine Vielzahl von Ländern näher vorzustellen. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den 'großen' Staaten, d.h. Großbritannien, Frankreich, der Bundesrepublik und der UdSSR. Doch viele andere werden ebenfalls behandelt, wobei insbesondere das große Gewicht hervorzuheben ist, das Judt mittel- und osteuropäischen Entwicklungen beimisst. Im Ergebnis liegt eine sehr informative (und entsprechend umfangreiche) Untersuchung vor, die eine Vielzahl von Informationen bietet, immer wieder gemeinsame Problemstellungen und Entwicklungen herausarbeitet und sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass der Autor sich nicht scheut, Bewertungen vorzunehmen und zu klaren Aussagen zu kommen. Wer also einen empirisch gesättigten Überblick über die europäische Geschichte nach 1945 erhalten will, wird hier bestens bedient.

Die Ausführungen zu den einzelnen Ländern sind - ausgehend von meinen Kenntnissen über Großbritannien und Deutschland - sorgfältig recherchiert, die Bewertungen überzeugen, selbst wenn sie gelegentlich etwas zu prägnant ausfallen. Besonders ausführlich behandelt Judt politische Zusammenhänge, geht aber auch auf sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Entwicklungen, kulturelle Aspekte und den weiten Bereich des Konsums ein, wenngleich diese Bereiche insgesamt weniger stark belichtet werden. So werden die Veränderungen des Lebensstandards zwar behandelt, jedoch geschieht dies wenig systematisch und es wird kaum danach gefragt, welche Veränderungen sich hierdurch für die europäischen Gesellschaften ergaben; inwieweit sich Klassen- und Schichtzugehörigkeiten veränderten bzw. an Bedeutung verloren. Diese Zurückhaltung dürfte damit zusammenhängen, dass der Autor bewusst keine 'großen Erzählungen' anbieten möchte. Angesichts seines großen Themas, der überaus komplexen Zusammenhänge und der geringen Haltbarkeitsdauer früherer Meistererzählungen ist dieses Vorgehen verständlich, doch es hätte eine Bereicherung bedeutet, wenn Judt einige der Angebote, z.B. Westernisierung, Konsum- und Risikogesellschaft, vorgestellt und kritisch bewertet hätte. Nahezu gar nicht wird leider auch in dieser Monografie das Thema 'Umwelt' behandelt.

Aus der Vielzahl der Befunde, Erklärungen und Bewertungen seien an dieser Stelle die Ausführungen zur Ausgangslage 1945 herausgegriffen. Der Autor betont, wie groß die Zerstörungen und Belastungen als Folge des Krieges waren, wie sehr deshalb die europäischen Staaten neu anfangen mussten. Jedoch wichtiger als diese materiellen Faktoren waren für ihn Mythen und Verdrängungen, die alle europäischen Gesellschaften betrafen. Zu den Mythen gehörte vor allem die gemeinsame Überzeugung, dass die 1930er-Jahre eine Zeit des Versagens waren und dass dieses Versagen in erster Linie die 'alten' Eliten und das politische System zu verantworten hatten. Erforderlich waren deshalb ein Neuanfang und grundlegende Reformen, die dadurch erleichtert wurden, dass dieser Mythos verbunden war mit einer verbreiteten Verdrängung der eigenen Beteiligung an den Entscheidungen der 1930er-Jahre; an den großen Konflikten dieser Zeit oder an die verbreiteten Formen der Kollaboration während des Krieges. So setzte sich die verbreitete Wahrnehmung durch, selbst vor allem Opfer gewesen zu sein - besonders ausgeprägt in West- und Ostdeutschland - und postulierte eine gemeinsame Erfahrung, die wesentlich zum reformerischen Konsens der Nachkriegszeit beitrug.

Dieser führte in den einzelnen Ländern zu unterschiedlichen Ergebnissen, bei erheblichen Unterschieden zwischen dem westlichen und dem von der Sowjetunion beherrschten Europa. Deren Empire kollabierte jedoch Ende der Achtzigerjahre in zuvor unbekannter Geschwindigkeit, und seitdem überwiegen Angleichungsprozesse hin zu einem ,,European Way of Life". Darüber wird seit einigen Jahren viel diskutiert, und auch Judt befasst sich damit in seinem abschließenden Kapitel. Hier betont er kulturelle Gemeinsamkeiten, vor allem den Umfang des öffentlich unterstützten Kulturbetriebs, verweist auf die Bedeutung des Konsenses oder die große Rolle des Staates. Doch gerade hier wäre eine systematischere Darstellung erforderlich gewesen, darunter eine Erörterung der nicht unerheblichen Unterschiede zwischen dem britischen und dem rheinischen Kapitalismus.

So weist die Untersuchung auch einige Schwächen auf, aber die Vorzüge überwiegen bei Weitem. Wer eine äußerst informative, sehr gut geschriebene und zu weiteren Überlegungen anreizende Darstellung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg sucht, kann derzeit keine bessere Wahl treffen.

Franz-Josef Brüggemeier, Freiburg


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 30. Oktober 2007