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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans-Peter Ullmann, Der deutsche Steuerstaat. Geschichte der öffentlichen Finanzen (Beck'sche Reihe 1616), Verlag C.H. Beck, München 2005, 270 S., kart., 14,90 €.

Die Geschichte des deutschen Steuerstaates ist die Geschichte seiner Expansion. Hans-Peter Ullmann zeichnet das Wachstum der öffentlichen Finanzen vom 18. Jahrhundert bis heute in vier miteinander verflochtenen Strängen nach: die Geschichte des Wachstums der Staatsausgaben, der Ausbau öffentlicher Einnahmen und zunehmender Staatsverschuldung, der Wandels von der Finanz- zur Steuer-Politik und schließlich die Geschichte des Ausbaus der Finanzinstitutionen. In seinem chronologischen, narrativen Überblick streift der Kölner Historiker immer wieder den stets latenten Konflikt zwischen Fiskus und Bürgern. Diese begegneten dem Entzug ihres Eigentums im 19. Jahrhundert - wie heute - mit Protest, vor allem durch Steuerhinterziehung, Steuerflucht und Schattenwirtschaft.

Nur selten stimmten die Ansprüche von Politikern und Bürokraten, aber auch der Bürger an die Leistungen des Staates mit seinen finanziellen Möglichkeiten überein. Staatsverschuldung, Inflation und Währungsreform sind daher stets wiederkehrende Erscheinungen des modernen Steuerstaats und der Papierwährung. Schließlich illustriert die Geschichte der öffentlichen Finanzen das kontinuierliche, kaum unterbrochene Verdrängen privater Initiative auf dezentralen Märkten durch bürokratische Planung und Steuerung in zentralisierten Organisationsformen. Als Triebkraft wirkten zunächst die Ausgaben für Streitkräfte und Kriege, dann die wachsende Betreuung der Bürger bis hin zum Wohlfahrtsstaat.

1895 sprach der Nationalökonom Albert Schäffle angesichts der überragenden Bedeutung der Steuern als Einnahme des Staates erstmals vom ,,Steuerstaat". Dabei wies er darauf hin, dass der Steuerstaat von der Ökonomie abhänge, deren Substanz angreife und so seine eigene Existenz gefährde (S. 7). Hans-Peter Ullmann stellt diese zeitlose Erkenntnis an den Anfang seiner sachlich ausgewogenen Überblicksdarstellung, die nicht zuletzt angesichts der aktuellen tief greifenden Krise der Staatsfinanzen eine Vielzahl politischer Lehren enthält.

Das Buch ist als Analyse langfristiger Wandlungsprozesse des deutschen Steuerstaats vom 18. Jahrhundert bis zum Beginn des 21.Jahrhunderts konzipiert. In der Debatte über die Krise des Steuerstaates, die die Historiker bisher weitgehend den Ökonomen überlassen haben, stellt es eine solide Ausgangsbasis für weitere Forschungen dar. Ullmann skizziert die Geschichte des Steuerstaates als Geschichte des öffentlichen Haushalts, welcher jenseits allen politischen Blendwerks einen Blick auf das tatsächliche Wesen des Staates gewährt. Ein Konzept, das sich in den fünf Kapiteln bewährt: der Auf- und Ausbau des Steuerstaates aus dem vormodernen Finanzwesen bis zur Industrialisierung (I.), die föderale Ausprägung bis zur Finanzierung des Ersten Weltkriegs (II.), die nationalen und internationalen Verteilungskonflikte der Zwischenkriegszeit bis zur Grossen Depression (III.), die verbrecherische Praxis in der NS-Zeit (IV.) und schließlich die ausufernde wohlfahrtsstaatliche Ausweitung bis zur aktuellen selbstverschuldeten Finanzmisere (V.). Das liegt auch an der Konzentration auf vier Gesichtspunkte: Erstens legt das Budget die Schwerpunkte zentralstaatlicher Tätigkeiten wie Militär- und Sozialausgaben, einzelstaatlicher Aktivitäten wie Verwaltung, Justiz und Bildung sowie kommunaler ,,Daseinsvorsorge" einschließlich ihrer Verklammerung durch den Finanzausgleich offen. Zweitens rücken richtungsweisende Entscheidungen wie die preußischen Reformen um 1800, die Reichsgründung von 1871, die Erzbergsche Finanzreform von 1919 und die Fiskalpolitik seit den 1960er-Jahren in den Mittelpunkt des Wandlungsprozesses. Drittens zeigt die Reaktion der Steuerzahler die Grenzen staatlichen Zwangs durch überzogene Lastenverteilung und ,,immer schärfere[n] Zugriff des Fiskus auf Einkommen und Vermögen der Bürger" (S. 12) auf. Schließlich bildet viertens die Expansion staatlicher Tätigkeit auf allen drei Ebenen den roten Faden, die sich in wachsenden Ausgaben und Einnahmen sowie der Umgestaltung von Finanzinstitutionen zur Steuerung der Gesellschaft niederschlägt.

Ullmann schildert zunächst wie der kräftige Ausbau des Steuerstaates im 18. Jahrhundert in Deutschland von den Einzelstaaten vorangetrieben wurde. Die anfangs subsidiäre und unregelmäßige Besteuerung anlässlich von Kriegen und Katastrophen wich bis zum Ende des Ancien Régime einer Besteuerung, die bei aller Vielgestaltigkeit der Steuersysteme grundsätzlich mehr als die Hälfte der Einnahmen ausmachte. Gleichsam gesetzmäßig wuchsen die Einnahmen der (Territorial)Staaten und blieben stets hinter den Ausgaben zurück; eine Ausnahme bildete Preußen beim Tod Friedrich II. Um 1800 schufen die souveränen Einzelstaaten mit Reformen das Fundament öffentlicher Finanzen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konsolidierten sie die infolge von Kriegen und Verschuldung zerrütteten Finanzen (Staatsquote in Preußen zur Jahrhundertmitte 10%), in der zweiten Hälfte expandierten sie ihre Aktivitäten, zunächst vor allem durch den Eisenbahnbau. Der Interventionsstaat begann sich herauszubilden. Kräftige konjunkturelle Auf- und Abschwünge prägten sich aus. Die Einkommenssteuer wurde zur wichtigsten Einnahmequelle. Ausbau und Widerstand gegen den Zwang des Steuerstaats gingen Hand in Hand, dabei wurde der kollektive Steuerprotest bald von der individuellen Steuerhinterziehung (Defraudation) überlagert.

Während der Deutsche Bund und der Zollverein ohne ein entwickeltes Finanzwesen auskamen, bereitete die Übernahme von Infrastrukturmaßnahmen und Sozialaufgaben durch den Staat, besonders im Zuge der Verstädterung um 1850, den Weg zum modernen Interventions- und Wohlfahrtsstaat (S. 66). Diese keineswegs zwangsläufige Entwicklung in Richtung eines ,,Maximalstaates" war mit einer stetig wachsenden Verschuldung und im Zuge der Militarisierung mit der Einführung ergiebiger direkter Reichssteuern verbunden. Bis zum Ersten Weltkrieg blieb das Problem eines systematischen Finanzausgleichs zwischen Reich und Bundesstaaten ungelöst. Die wachsende Steuerlast wurde im Hinblick auf Steuergerechtigkeit, Legitimität und die Rolle des Staates in der Gesellschaft in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit debattiert.

Die finanziellen Folgen des verlorenen Krieges steigerten die staatlichen Interventionen weiter, sie ,,trieben den Anteil der öffentlichen Ausgaben am Volkseinkommen in die Höhe und vergrößerten das Defizit im Reichshaushalt." (S. 100) Mit der Erzberger'schen Finanzreform wurde der Finanzföderalismus durch einen Unitarismus ersetzt - der zentralstaatliche Behördenapparat in Reich und Ländern konnte mit dem Reichsfinanzministerium, 26 Landes- und 1.000 Finanzämtern immer effizienter auf Vermögen und Einkommen der Bürger zugreifen. Bereits in der Weimarer Republik bewirkte eine scharf progressive Einkommenssteuer indes das Gegenteil des Intendierten: Niedrige Einkommen trugen erhebliche Steuerlasten und überproportionale wachsende Sozialleistungen (1927/28: 37 Prozent der Ausgaben) belasteten die Unternehmen beträchtlich (,,Borchardt-Kontroverse").

Machtstruktur und Herrschaftspraxis des NS-Regimes spiegelten sich in den Staatsfinanzen wider. Das gilt für die ,,Flucht aus dem Budget" (S. 141) durch Reichswehr, NSDAP und SS und die Missachtung geordneter Finanzen wie für die nationalsozialistische Steuerpolitik (Rechtsprechung ,,in dubio pro fisco" (S. 153), Unterordnung unter NS-Weltanschauung). Die Ausplünderung von Juden und eroberten Gebieten berücksichtigt Ullmann, ohne die Aly-Kontroverse einbeziehen zu können.

Anschließend zeichnet Ullmann den bekannten Weg in der Besatzungszeit und der Bundesrepublik Deutschland sowie der DDR nach. In Westdeutschland wurde die sparsame Politik der ,,geschlossenen Hand" bereits in den 1950er-Jahren durch Wahlgeschenke und in den 1960er-Jahren durch den Schwenk zur ,,Fiscal policy" abgelöst. Dem ,,modernen Wahn" (L. Erhard) des Wohlfahrtsstaates wurde der Boden auf allen drei Ebenen von Bund, Ländern und Gemeinden bereitet. Die ,,Maßlosigkeit" der sozialliberalen Koalition, die ausgebliebene Wende der Haushaltskonsolidierung der Regierung Kohl und die Wiedervereinigungstransfers haben den Steuerstaat an seine Grenzen, wenn auch nicht zu seinem Ende geführt, konstatiert Ullmann. Ausmaß und Wachstum von Steuerhinterziehung und Schattenwirtschaft sind eindeutige Signale mangelnder Akzeptanz und notwendiger Anpassung.

Die insgesamt wenig überraschenden Ergebnisse der Überblicksdarstellung, die den Charme einer Verfassungsgeschichte hat, lassen sich auch als Geschichte der zunehmenden Verlagerung der Verfügungsgewalt über das Privateigentum weg von den Bürgern hin zu Politik und Verwaltung lesen. Zu Recht betont Hans-Peter Ullmann, dass dieser Weg keineswegs zwangsläufig, sondern Ergebnis politischer Entscheidungen ist. So lautet die zeitlos gültige Botschaft der Expansion des Steuerstaates: Jede Leistung des Staates beruht auf einem Verzicht des Volkes (Ludwig Erhard).

Michael v. Prollius, Berlin


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