ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist nach Kriegsende in beiden Teilstaaten unterschiedlich beurteilt worden. Man erinnere sich an die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, wie in der westdeutschen Öffentlichkeit die Opposition sozialistischer Gruppierungen eher verharmlost und der militärische Widerstand erst recht langsam positiv bewertet wurde, während in Ostdeutschland der Kampf der Kommunisten hervorgehoben und die Opposition der Offiziere und der Konservativen marginalisiert wurde. Historiker haben mit bescheidener Wirkung dagegen angeschrieben. Im Gefolge der Wiedervereinigung Deutschlands, der Auflösung der Sowjetunion und der Öffnung der Archive, aber auch als Folge des zeitlichen Abstandes wurde das Bild vom Widerstand gegen Hitler und den Nationalsozialismus mit seinen starken Verzweigungen und Ausprägungen - bürgerlicher, sozialistischer, christlicher, militärischer und jugendlicher Widerstand - klarer. Auch die zahlreichen Akteure und ihr oft widersprüchliches Verhalten in den Jahren 1933 bis 1945 scheinen in der deutschen Öffentlichkeit inzwischen gerechter beurteilt zu werden.

Bis heute sind Jahrestage das Glück von Biografen, auch wenn sie tragische Schicksale behandeln. In diesem Jahre ist zweier Vertreter des deutschen Widerstandes gegen Hitler und den Nationalsozialismus zu gedenken: Des Abwehrchefs Wilhelm Canaris und eines seiner Mitarbeiter, Helmut James Graf von Moltke, der Kopf des Kreisauer Kreises war. Sowohl vom Alter als auch von der Sozialisation her gesehen gehörte Canaris der Vätergeneration an. Es gab viele Unterschiede zwischen den Beiden: Hier der 1887 geborene konservative Offizier der kaiserlichen Kriegsmarine, dort der 1907 geborene christlich-sozialistisch eingestellte Jurist Moltke, der sich bis zuletzt gegen das Tragen einer Uniform sträubte.

Der Canaris-Biograf Michael Mueller schildert ihn als sensiblen Berufsoffizier aus großbürgerlichem Hause, der in der Revolutionszeit 1918/1919 in den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Lebknecht verwickelt war, als rechtskonservativer Beisitzer im Prozess gegen deren Mörder öffentlich kritisiert wurde, dann als ,,Mann für alle Fälle" in geheimer Mission nach Spanien ging und später unter Hitler mal mit, mal gegen Reinhard Heydrich und Heinrich Himmler im Sicherheitsapparat des Dritten Reiches aufstieg und fiel. Moltke wird von seinem Biografen Günter Brakelmann als hochintelligenter, junger Anwalt mit Schwerpunkt Völkerrecht dargestellt, der - Träger eines großen Namens in der deutschen Militärgeschichte - sich mit Charme mühelos in der deutschen wie in der englischsprachigen großen Welt der Journalisten, Literaten, Politiker und Theologen bewegte und gleichgesinnte kritische Freunde aus der Welt des Adels und des Bürgertums, aus der Wirtschaft und aus den Gewerkschaften sowie aus den beiden großen Konfessionen in oft leidenschaftlichen Diskussionen gewann. Man schätzt, dass dieser oppositionelle Kreis um die Familien von Moltke und Yorck von Wartenburg etwa einhundert Personen umfasste. (1) Es gelang dem jungen Moltke zugleich, das väterliche Gut Kreisau in Schlesien zusammen mit dem nationalsozialistisch gesinnten, aber persönlich loyalen Verwalter durch einige finanzielle Krisen zu steuern. Er nahm zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in der militärischen Abwehr eine relativ bescheidene Stellung als Völkerrechtsberater ein.

Canaris und Moltke nutzten ihre Positionen in der Abwehr und die damit verbundenen zahlreichen Reisen im In- und Ausland als Tarnung, konspirativ auf das Ende des NS-Regimes hinzuwirken: Canaris - wie die meisten Offiziere seiner Generation - zaudernd auf den Sturz noch während des Krieges, Moltke mit großen Entwürfen für ein demokratisches Deutschland in einem geeinten Europa auf ein baldiges Ende des Krieges hoffend. Der Offizier Wilhelm Canaris entwickelte sich unter dem Eindruck schlimmster Verbrechen und im Angesicht der drohenden Niederlage vom anfänglichen Helfer des NS-Regimes zum konspirierenden Abwehrchef und versuchte zusammen mit seinem vorwärtsdrängenden Mitarbeiter Hans Oster, bereits während der Sudetenkrise von 1938 Kontakte zu britischen, dann alliierten Politikern und Geheimdiensten aufzunehmen. Ein Umsturz der Militärs in Deutschland, der der Kriegsvermeidung galt, platzte angesichts von Hitlers unvorhergesehenem Erfolg nach der britischen Appeasement-Politik. Zu Recht stellt Mueller denn auch fest: ,,Die Entfesselung des Krieges war die Niederlage der militärischen und zivilen Opposition" (S. 287) in Deutschland.

Es gelang dem Admiral Canaris wiederholt, jüdische Deutsche vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu retten. Dergleichen Aktionen unternahm auch der Kriegsverwaltungsrat Moltke, der zudem Kontakte zu Widerstandsgruppen in den besetzten Gebieten in West- und Nordeuropa pflegte. Darüber hinaus fühlte sich der Zivilist Moltke als engagierter Staats- und Völkerrechtler schon sehr früh - in den 1930er-Jahren - aus seiner demokratischen und christlichen Grundhaltung heraus verpflichtet, sich theoretisch mit dem totalitären NS-Staat auseinanderzusetzen und die Planung für ein freiheitliches und soziales Deutschland nach dem Untergang des Führerstaates voranzubringen. Im Kriege bemühte er sich, mit Hilfe von völkerrechtlichen Gutachten die Lage von Kriegsgefangenen zu mildern und Erschießungen zu verhindern.

Brakelmann macht die weltanschaulichen Unterschiede innerhalb des deutschen Widerstandes deutlich. Er schildert die Auseinandersetzungen zwischen den zumeist ,,Älteren", den Nationalkonservativen, zu denen Canaris ebenso wie der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler und der ehemalige Generalstabschef Ludwig Beck gehörten, und den zumeist ,,Jüngeren", den fortschrittlichen Kräften, zu denen neben Moltke zahlreiche Sozialisten wie Julius Leber und Adolf Reichwein sowie Christen beiderlei Konfessionen wie Alfred Delp und Eugen Gerstenmaier zählten. Was Canaris und Moltke sowie ihre Gesinnungsfreunde verband, war die ethisch begründete Ablehnung des totalitären NS-Staates und dessen Grausamkeiten - unter Bruch des auf Hitler geleisteten Eides. Nach zwei fehlgeschlagenen Anschlägen im Jahre 1943 wurde das Attentat und der Umsturz vom 20. Juli 1944 in aussichtsloser Kriegslage und trotz der Forderung der Alliierten nach bedingungsloser Kapitulation von meist jüngeren Offizieren um Claus Schenk von Stauffenberg und Henning von Tresckow gewagt. (2) Bei Canaris hatte - wie bei anderen Offizieren - die Abwendung von Hitler als Folge der Intrigen in der sogenannten Blomberg-Fritsch-Affäre von 1938 begonnen. Auch wenn sie persönlich nicht an dem Attentat und dem versuchten Umsturz des 20.Juli 1944 beteiligt waren, sind Moltke und Canaris doch als Wegbereiter anzusehen. Canaris war bereits im Frühjahr 1944 entmachtet worden und wurde am 23. Juli 1944 verhaftet. Moltke, der ein Attentat auf Hitler sogar ablehnte, war am 19. Januar 1944 verhaftet worden. Beide wurden in den letzten Wochen des Dritten Reiches ermordet: Moltke am 23. Januar 1945, Canaris am 9. April 1945.

Dies gilt es in Erinnerung zu rufen, wenn man sich den beiden Biografien von Außenseitern der Historiker-Zunft zuwendet und entsprechende Darstellungen zum Widerstand erneut liest, auch um die Zusammenhänge nicht aus den Augen zu verlieren. (3) Die Neigung zur Ausbreitung von zu vielen Details kann bei Michael Mueller gelegentlich dazu führen, dass der Leser bei manchen Tagesdaten nicht mehr genau das Jahresdatum weiß. Die - mit Ausnahme des starken ersten Kapitels ,,Hitlers Rache" - stark chronologisch orientierte Darstellung des Journalisten und Autors Michael Mueller ist sehr flüssig geschrieben und insbesondere den Fragen gewidmet: War Canaris ,,ein Getriebener oder hat er sich treiben lassen?" (4) Und wie äußerte sich bei ihm ,,der zentrale Widerspruch zwischen widerständigem Verhalten einerseits und der Beteiligung an Hitlers Kriegs- und Vernichtungsmaschinerie andererseits"? (S. 10) Die Persönlichkeit von Canaris als undurchsichtiger Geheimdienstmann bietet Stoff zur Erzeugung von Spannung, die in dem Buch durchaus zu spüren ist, aber auch zur Ausbreitung von Licht und Schatten. So arbeitete Canaris einerseits beispielsweise Alfred Rosenberg zu, dem designierten Reichsminister für die besetzten Ostgebiete (S. 352), und seine Leute waren teilweise an der Planung von Massakern an Juden im Jahre 1941 beteiligt, andererseits übergab er im gleichen Jahr dem OKW-Chef Keitel einen schriftlichen Protest gegen die brutale Behandlung russischer Kriegsgefangener, den der Völkerrechtler Moltke formuliert hatte (S. 357f.). Empört las Canaris Hitler selbst einen Augenzeugenbericht über Massenerschießungen der Rigaer Juden vor, auf den dieser kühl reagierte: ,, Sie wollen wohl weich werden? Ich muß das tun. Nach mir tut es kein anderer" (S. 362).

Es ist offensichtlich der schwierigen oder knappen Quellenlage zuzuschreiben, dass Mueller trotz starker Benutzung des Bundesarchivs wenig von den persönlichen und dienstlichen Überlegungen Canaris' mitteilen kann, die eine Art innerer Biografie ergeben hätte. Deshalb wohl die Ausbreitung des äußeren Geschehens, der vielen Reisen ins Ausland, insbesondere nach Spanien, die u.a. der vergeblichen Planung für eine Besetzung Gibraltars dienten (S. 332ff.) Die Biografie von Mueller über Wilhelm Canaris ist quellen- und literaturmäßig gut belegt und von einem zuverlässigen Personenregister erschlossen. Ganz konnte er der eigenen Warnung, nicht zu spekulieren, nicht widerstehen. So gibt Mueller Theorien wieder, wie mit Mitwirkung des deutschen Sicherheitschefs Reinhard Heydrich die sowjetische Generalsgruppe unter Marschall Tuchatschewski im Jahre 1937 durch Stalin verhaftet und liquidiert wurde (S. 204-206). Aber wer kann ihm zur Zeit dabei wirkungsvoll widersprechen? Bei der Ausbreitung so vieler Details wäre eine stärkere Strukturierung bei der Schilderung widerständigen Verhaltens gelegentlich wünschenswert gewesen. Dies hat Mueller in dem Vorwort versucht, in dem er auch die biografische Methode rechtfertigt und dem Chef der deutschen Abwehr, einem ,,Workaholic" (S. 11) mit kargem Privatleben, bescheinigt: ,,Er war kein Hitler und kein Himmler, aber ein Dohnanyi oder Bonhoeffer war er auch nicht" (S.10).

Anders sieht es bei der Biografie des Theologen Günter Brakelmann aus, der über den Kreisauer Kreis mehrfach publiziert hat und auf die publizierten Briefe und Denkschriften Moltkes und seiner Gesinnungsfreunde zurückgreifen konnte. Brakelmann gelingt es mit z.T. längeren Zitaten, sowohl die äußere als auch die innere Entwicklung Moltkes zum stark religiös geprägten Demokraten darzustellen. Als er zusammen mit anderen des Kreisauer Kreises im Januar 1945 vor dem Volksgerichtshof vernommen wurde, brachte Moltke aufgrund seiner ruhigen christlichen Glaubenszuversicht seinen NS-Richter Roland Freisler noch mehr in Rage, der ihm letztlich vorhielt: "Nur in einem sind das Christentum und wir gleich: Wir fordern den ganzen Menschen!" (S. 357)

Heute wirken die von Moltke allein oder gemeinsam mit den Freunden verfassten Denkschriften, die 1941-1943 entstanden, ungewöhnlich modern: Sie galten der Neugestaltung eines freiheitlich und sozial organisierten Deutschland inmitten eines dezentral konstituierten Europas, enthielten aber auch Vorschläge zur Behandlung von Kriegsverbrechen vor einem internationalen Gerichtshof und Warnungen vor der ,,Misshandlung der Natur durch wirtschaftlichen Raubbau" (S. 167ff.). Moltkes jugendlicher Schwung und soziales Gewissen, die ihn zur Organisierung der schlesischen Arbeitslager 1928-1930 gedrängt hatten und auch mit Jugendbewegten wie Horst von Einsiedel (5), Adolf Reichwein und dem Engländer Rolf Gardiner zusammengeführt hatten, seine herausragende Intelligenz und Bildung ermöglichten ihm seine erfolgreichen zahlreichen deutschen und internationalen Kontakte. Dies alles darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Moltke - anders als Canaris - nicht an irgendwelchen Hebeln der Macht saß. Brakelmann schildert Moltke denn eher als vermittelnden und Einfluss nehmenden Theoretiker.

Diese Moltke-Biografie enthält im Anhang neben dem Literatur- und Quellenverzeichnis eine Zeittafel und ein Personenregister. Hier gibt es am Ende ,nur' einen Epilog, keinen Versuch einer abschließenden Würdigung durch den Autor. Dieser besteht vielmehr aus einer kurzen allgemeinen Würdigung der hingerichteten Männer und Frauen des deutschen Widerstandes und aus einer speziellen für Helmut James von Moltke, die die amerikanische Journalistin Dorothy Thompson unmittelbar nach Kriegsende geschrieben hatte. Sie hatte den 19-jährigen Moltke im Jahre 1926 in Wien im Kreise von Literaten und Künstlern kennen gelernt (S. 362ff.). Besonders berührt der anschließend abgedruckte Moltke-Brief an seine beiden kleinen Söhne mit dem Titel ,,Wie alles war, als ich klein war" (S. 365-390). Er schrieb ihn Ende Januar/Anfang Februar 1944 in der Berliner Haft, kurz bevor er in das Konzentrationslager Ravensbrück verlegt wurde. Brakelmann hat mit dieser auch literarisch wertvollen Autografie Moltkes seiner Hauptfigur ein schönes Denkmal gesetzt.

Ekkehard Henschke, Oxford

Fußnoten:


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