ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Die Verfassungen in Europa 1789-1949. Wissenschaftliche Textedition unter Einschluß sämtlicher Änderungen und Ergänzungen sowie mit Dokumenten aus der englischen und amerikanischen Verfassungsgeschichte, hrsg. u. m. e. verfassungsgeschichtlichen Einführung zur Erschließung der Texte versehen von Dieter Gosewinkel u. Johannes Masing unter Mitarbeit v. Andreas Würschinger, Verlag C.H.Beck, München 2006, XXIV, 2116 S., geb., 268,00 €.

Die monumentale Edition von Gosewinkel und Masing verdient jede Anerkennung, und die Herausgabe der europäischen Verfassungen in einer einsprachigen Ausgabe ist eine hochwillkommene Ergänzung zu den originalsprachigen Editionen von Dippel, da sie den direkten Vergleich dieser Verfassungen wesentlich erleichtert. Angesichts ihres umfassenden Charakters ist sie fraglos der drei Jahre zuvor im gleichen Verlag erschienenen, sehr selektiven Edition Europäische Verfassungsgeschichte von Willoweit und Seif vorzuziehen.

Ungeachtet dieser Vorzüge weist die vorliegende Edition einige Eigentümlichkeiten auf, die sich nur schwer mit dem Anspruch auf Vollständigkeit vereinbaren lassen. Zunächst fällt das Enddatum 1949 auf, das in der europäischen Verfassungsgeschichte jenseits eines deutschen Verfassungspatriotismus schwerlich eine Zäsur darstellt, schon gar keine, die mit dem Eingangsdatum 1789 vergleichbar wäre. Dies zum Datum der ,,verfassungsrechtlichen Rekonstruktion nach dem Zweiten Weltkrieg" zu erheben (S. 1), verrät doch zu sehr die eigene Nabelschau.

Subnationale Verfassungen wie etwa die der deutschen Bundesländer oder Schweizer Kantone bleiben unberücksichtigt, warum aber auch die souveräner deutscher, italienischer oder anderer Staaten vor der nationalen Vereinigung? Warum verdient die durch Nazi-Deutschland zustande gekommene Verfassung der Slowakischen Republik von 1939 aufgenommen zu werden, nicht aber die des Fürstentums und nachmaligen Königreichs Serbien? Was spricht für die Aufnahme faschistischer ,,Verfassungen" und ,,Verfassungsgesetze" in Deutschland, Italien und anderswo und rechtfertigt zugleich den ausnahmslosen Ausschluss aller sozialistischen Verfassungen? Sogenannte Zwergstaaten bleiben unberücksichtigt, aber fallen darunter auch Island oder gar die Türkei?

Lediglich in Kraft getretene Verfassungen wurden aufgenommen, aber die jakobinische Verfassung von 1793 ist nie in Kraft getreten, wohl aber die Menschenrechtserklärung vom 29. Mai 1793 (bis sie am 9. Oktober 1793 per Dekret des Konvents wieder abgeschafft wurde). Doch diese findet sich im Gegensatz zu ersteren nicht in der Sammlung. Von Ungarn finden sich alle 31 Gesetzesartikel vom April 1848, obwohl nach einhelliger Meinung der Verfassungshistoriker nur wenige von ihnen tatsächlich Verfassungscharakter hatten, doch kein einziges Verfassungsgesetz von 1867 oder zum Königreich Ungarn nach 1919. Ähnlich wird man sämtliche der 100 Revisionen (bis einschließlich 1948) zur norwegischen Verfassung vom 4.11.1814 vermissen oder sich fragen, warum die schwedische Reichstagsordnung von 1810, einschließlich ihrer Amendierungen, nicht aufgenommen wurde, findet sich hier doch die von 1866, allerdings wiederum ohne ihre 34 Amendierungen bis einschließlich 1949. Die Niederlande treten erstmals mit der Verfassung von 1815 in Erscheinung, während alle Verfassungstexte der voraufgegangenen 20 Jahre fehlen. Ohnehin sind die für die europäische Geschichte so bedeutsamen napoleonischen Verfassungen außerhalb Frankreichs nur mit dem Estatuto de Bayona von 1808 vertreten. Die Schweizer Mediationsakte von 1803 fehlt ebenso wie die Verfassung des Großherzogtums Warschau von 1807, letztere mit dem schwer nachvollziehbaren Argument, sie habe sich nur ,,auf einen rudimentären Rumpfstaat bezogen" (S. 375), von den Verfassungen der Königreiche Westfalen und Neapel ganz zu schweigen.

Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Doch hat jede Publikation dieser Art zwangsläufig ihre Lücken, und keinem dürfte dies stärker bewusst sein als dem Rezensenten. Nicht die Lücken in der vorliegenden Sammlung sind mithin das eigentliche Problem, auch wenn sie angesichts der vorliegenden bekannten und von den Herausgebern immer wieder zitierten Sammlungen schon überraschen, sondern der Umgang mit den eigenen Kriterien und Zielen und ihre mitunter nur halbherzig erfolgten Begründung, deren Trennschärfe von den Herausgebern selbst wiederholt, direkt oder indirekt, infrage gestellt wird.

Wie immer dies, inklusive der etwaigen Rolle von nicht thematisierten Verlagsentscheidungen zu gewichten sein mag (nur als Andeutung, S. IX), die wirklich entscheidende Frage ist der Qualität der Übersetzungen. Angesichts eines mittlerweile sensibilisierten juristischen wie linguistischen Problembewusstseins für die Übersetzung von Rechtstexten und einer wachsenden Forschungsliteratur sowie den neueren Arbeiten von Gerard-René de Groot, Petra Braselmann, Ulrike Hass u.a. erstaunt doch sehr, dass diese Thematik in der Einleitung mit keinem Wort erwähnt wird. Bereitwillig wurde auf vorhandene Übersetzungen zurückgegriffen, wann immer sie erreichbar waren. Die eine oder andere wurde dabei wohl überarbeitet, die verbliebenen Texte neu übersetzt. Doch welche allgemeinen Kriterien dabei zugrunde lagen, ja ob es diese überhaupt gab, bleibt völlig unerwähnt (vgl. S. 2ff.). Es bleibt mithin nur die Einzelfallprüfung.

Angesichts dieser Situation kann es nicht überraschen, dass bei den amerikanischen Texten - um dieses Beispiel zu wählen - in den Übersetzungen von Pölitz und Schubert, obwohl die Sammlung des letzteren unter dem Gesichtspunkt der Übersetzungen bereits eingangs als ,,wenig brauchbar" charakterisiert worden war (S. 4), die bekannten Probleme reproduziert werden, die deutsche Übersetzer des 18. und 19. Jahrhunderts mit der amerikanischen Verfassungsterminologie hatten. Schwerwiegender als daraus resultierende aufwändige Umschreibungen oder Ungeschicklichkeiten, die leicht zu durchschauen sein mögen, sind jene Auslassungen oder falsche Übersetzungen, die erst durch den direkten Textvergleich offenkundig werden. Das mag beginnen bei dem Titel des Dokuments (,,Bundesvertrag", wo es tatsächlich heißt ,,Articles of Confederation") und über den Staatsnamen (,,Die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika" statt ,,The United States of America") gehen bis hin zu der Bestimmung ,,Alle Processe gegen alle Arten von Verbrechen, nur die gegen die Staatsverwaltung abgerechnet, sollen durch Geschworne entschieden werden" (S. 139, 152). Tatsächlich geht es hier aber nicht um Straftatbestände, sondern um Tätergruppen, d.h. ausgenommen sind jene Amtsträger, die sich eines Amtsvergehens schuldig machen (,,The trials of all crimes, except in cases of Impeachment, shall be by jury").

Es mag bei diesen Beispielen sein Bewenden haben. Sie mögen willkürlich herausgegriffen erscheinen und für andere Sprachen und Textgruppen in dieser Form nicht zutreffen. Doch sie weisen daraufhin, dass Zweifel angebracht sind, ob, nicht zuletzt angesichts einer fehlenden Problematisierung in der Einleitung, diesem Kernbereich der Edition tatsächlich die notwendige Aufmerksamkeit und Sorgfalt zuteil wurde. So begrüßenswert der Textzugang für einen immensen Textcorpus mit Hilfe einer einzigen Sprache auch ist, eine ,,wissenschaftliche Textedition" hätte höhere Maßstäbe erfordert. Für jede vertiefte Beschäftigung mit diesen Dokumenten wird man daher auch weiterhin gut beraten sein, auf die Originaltexte zurückzugreifen.

Horst Dippel, Kassel


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