ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christian Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871-1933, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, 337 S., kart., 38,90 €.

Kein Teilgebiet der Psychiatrie löst so viele Ängste und Emotionen aus wie die Forensik. Immer wieder stehen die forensischen Kliniken im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, wenn Insassen ausbrechen oder Entlassene rückfällig werden. Stets aufs Neue stellen Öffentlichkeit und Politik die Frage: Wird die Gesellschaft ausreichend vor unberechenbaren, weil psychisch kranken Straftätern geschützt? Dass diese Frage überhaupt an die Psychiatrie gestellt wird, ist eine Folge der Medikalisierung der Kriminalität im Zuge der ,,Verwissenschaftlichung des Sozialen". Christian Müller verfolgt diesen Prozess im Rahmen seiner Studie zur ,,Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat", der seine 2002 in Essen angenommene Dissertation zu Grunde liegt. Er zeichnet die Konflikte nach, welche die Psychiatrie im Kaiserreich und in der Weimarer Republik mit der Rechtswissenschaft um eine Reform des Strafrechts austrug und legt damit einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Kriminologie, der Forensik und der Strafrechtsreform in Deutschland vor.

Historiker haben bis vor kurzem diese Themen stiefmütterlich behandelt. Nachdem aber zuletzt die Entwicklung der deutschen Kriminologie, ihr Diskurs und ihre Verwissenschaftlichung Beachtung gefunden haben, legt Müller nun die erste sozialgeschichtlich fundierte Analyse der Verflechtung von Wissenschaft, Bürokratie, bürokratischer Praxis und Rechtsnormen an den Schnittflächen zwischen forensischer Theorie und Praxis vor. Seine besondere Leistung besteht darin, dass er die Kriminologie nicht nur im Zusammenhang wissenschaftlicher und weltanschaulicher Diskussionen interpretiert, sondern ihre Entwicklung als Strategie zur Lösung ganz konkreter Probleme zeigt. Sein vielgestaltiger Quellenkorpus besteht nicht nur aus der einschlägigen Fachliteratur, sondern bezieht Archivalien der Ministerien und der forensischen und kriminologischen Praxis mit ein. Er fragt, ob das Engagement der Mediziner für Strafrechtsreformen eine Professionalisierungsstrategie gewesen sei, ob man das Vordringen der Biowissenschaften in der Strafrechtspflege als Strategie der Sozialdisziplinierung begreifen könne, und ob die Strafrechtsreform zu einer Rationalisierung im Sinne einer Verwissenschaftlichung der Verbrechensbekämpfung geführt habe. Es spricht für Müller, dass er auf keine dieser Fragen einfache Antworten weiß.

Im ersten Teil zeichnet Müller die Entstehung der Kriminologie aus der gerichtlichen Psychopathologie nach. An Hand exemplarischer forensischer Gutachten zur Zurechnungsfähigkeit demonstriert er die Entwicklung medizinischer Deutungsmuster der Kriminalität. Als folgenreichste Entwicklung kennzeichnet er dabei die Durchsetzung des Psychopathiekonzeptes. Dieses löste seit Ende des 19. Jahrhunderts die älteren Konzepte des moralischen Schwachsinns und der Degeneration ab, weil es die Konstruktion eines forensischen Wertungsbegriffs ermöglichte, ohne dass dadurch ein Krankheitsbegriff entstand. Mit anderen Worten, Verbrechen ließ sich durch Psychopathie naturwissenschaftlich erklären, ohne dass das Behandlungsmonopol des Strafrechts angetastet wurde. Mit der Unterscheidung zwischen Psychosen und Psychopathie schlossen Psychiatrie und Rechtswissenschaft einen Kompromiss, der bis weit in das 20. Jahrhundert wirkte und den Grundstein für eine täterorientierte Kriminologie legte, die auch die Umwelt als letztlich unkalkulierbaren Faktor integrierte. Diese Geschichte der Kriminologie war insofern ,,eine Erfolgsgeschichte der Psychiatrie." (S. 80)

Müller analysiert aber auch, welche praktischen Probleme die Anstaltspsychiater des Kaiserreichs im Umgang mit psychisch kranken Rechtsbrechern zu bewältigen hatten. In die Anstaltspsychiatrie gelangten zum einen Straftäter, die wegen Unzurechnungsfähigkeit nicht weiter strafverfolgt wurden, zum anderen rechtskräftig verurteilte Kriminelle, bei denen während des Strafvollzugs Geisteskrankheit diagnostiziert worden war. Beinahe 20 Prozent der Insassen der Irrenanstalten fielen unter diese Kategorien. Die wenigsten aber waren wirklich gefährliche Gewaltverbrecher. Den Großteil machten statt dessen Kleinkriminelle mit langen Anstaltskarrieren aus, schwierige Insassen, die den regulären Strafvollzug gestört hatten und in die Psychiatrie abgeschoben worden waren. Nicht nur dass die Sicherung dieser Patienten dem therapeutischen Selbstverständnis der Irrenanstalten widersprach, die Provinzialverbände als Träger der Irrenanstalten sahen sich zudem durch zusätzliche Kosten benachteiligt. Die durch steigende Patientenzahlen ohnehin überforderte Anstaltspsychiatrie reagierte, indem sie solche Insassen als geheilt entließ, und - als die Behörden diesen Ausweg auf administrativem und juristischem Wege verschlossen - indem sie deren Entweichung ermöglichte. ,,Je dichter das juristische Netz geknüpft wurde," resümiert Müller, ,,desto durchlässiger wurden die Anstaltsmauern." (S. 101)

Indem Müller die Debatten um die Strafrechtsreform in diesen Kontext einbettet, gelingt ihm eine Neuinterpretation des sogenannten Schulenstreits. Er deutet das Engagement der Irrenärzte für Strafrechtsreformen vor dem Hintergrund der Situation der Forensik und demonstriert, dass die Formierung der modernen Strafrechtsschule durch Franz von Liszt eine Abwehrreaktion auf diese Herausforderung der juristischen Autorität war. Der Strafrechtler v. Liszt übersetzte Forderungen nach der Abschaffung des Strafmaßes zugunsten einer unbefristeten, therapeutisch begründeten Unterbringung, wie sie der junge Psychiater Emil Kraepelin artikuliert hatte, in eine naturwissenschaftlich fundierte Kriminalpolitik, welche die juristische Definitionsmacht bewahrte und an Begriffen wie Strafe und individueller Schuld festhielt. Der Reformpolitiker v. Liszt war außerdem immer bereit, Kompromisse mit seinen Kritikern der sogenannten klassischen Strafrechtsschule zu schließen. Die Entwicklung der Strafrechtsreform vor 1914 stellt sich nach Müller deshalb als ,,defensive Modernisierung" dar, bei der die moderne Schule sich keineswegs durchsetzte, sondern bei der das Strafen gerade durch die Vermengung klassischer und moderner Strafgründe entgrenzt wurde. Im Namen des Sicherungsprinzips durfte die vergeltende Gerechtigkeit überschritten werden; im Namen der Schuldvergeltung wurde aber keine Strafmilderung gestattet.

Im zweiten Teil seines Buches beschreibt Müller, wie in der Weimarer Republik auf diesem Kompromiss aufgebaut wurde. Im Kontext der Krisenerfahrung des Weltkriegs und der politischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik maß man der sozialen Verteidigung größere Bedeutung zu als der Resozialisierung. Die Diskussion wurde zum einen über das Projekt der Sicherungsverwahrung im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit geführt, zum anderen über die eugenische Sterilisation als Kriminalpolitik. Zwar ging das gesamte Projekt der Strafrechtsreform in den politischen Auflösungserscheinungen und der parlamentarischen Lähmung der späten Weimarer Republik unter. Aber es wurden Vorarbeiten geleistet, auf die das nationalsozialistische Regime zurückgreifen konnte.

Wie die theoretischen Konzepte der Kriminologie nach 1918 in der Praxis des Strafvollzugs angewandt wurden, analysiert Müller am Beispiel der kriminalbiologischen Untersuchungen in Bayern. Hier wurde von Anfang an eine erbbiologische und völkische Variante der Kriminologie praktiziert, die gleichzeitig der Grundlagenforschung und der konkreten Anwendung dienen sollte. Müller zeigt eindrücklich, wie sich diese Bestrebungen gegenseitig blockierten, wie sich die Forschungsergebnisse zwangsläufig verfälschten und wie verhängnisvoll sich diese Entwicklung auf die Behandlung der Gefangenen auswirkte: ,,Die konservative Auslese-Pädagogik und die auf einer oberflächlichen Rezeption der Rassenhygiene basierende Kriminalbiologie hatten sich wechselseitig in ihren selektiven Tendenzen bestärkt und bis zum Beginn der dreißiger Jahre bewirkt, dass der Großteil der bayerischen Gefangenen als ,unverbesserlich` aufgegeben wurde. Eine Rationalisierung des Strafens hatte nicht stattgefunden." (S. 265) Dennoch, so Müller, sei durch die Rezeption der Kriminalbiologie die Überwindung des Schulenstreits im Nationalsozialismus vorbereitet worden. Er legt in einem Ausblick auf das Dritte Reich dar, wie im Strafrecht zunächst die Vergeltungsstrafe neben den Sicherungsmaßregeln verankert wurde, ohne dass die formalen Hürden und Rechtsgarantien früherer Strafgesetzentwürfe übernommen worden wären, und wie im Laufe des zweiten Weltkriegs auch noch die letzten Reste der Rechtsstaatlichkeit beseitigt wurden, als die Justiz die Sicherungsverwahrten an die Polizei zur ,,Vernichtung durch Arbeit" in den Konzentrationslagern auslieferte. Die Verbrechensbekämpfung war zuletzt selbst verbrecherisch geworden.

Müller kann zeigen, dass die ,,Rationalisierung des Strafens" im Anstaltsstaat ein einziger Zirkelschluss war, bei dem vorwissenschaftliche Postulate immer wieder die politischen Weichen stellten, denen die Strafrechtsreform folgte. Gerade indem er die Eigenlogik der Kriminalpolitik beleuchtet, kann er die Handlungsspielräume der Akteure und damit ihre historische Verantwortung präzise bestimmen. Bisweilen schießt Müller dabei freilich über sein Ziel hinaus und vernachlässigt andere wichtige Einflüsse. So spielt die Gefängnisreformbewegung in seiner Darstellung keine Rolle, obwohl dort die Abschaffung des Strafmaßes schon so lange diskutiert wurde, wie es das Gefängnis als Straf- und Besserungsanstalt gab. Außerdem vermisst man die Debatten, die über die Simulation von Geisteskrankheiten durch Strafgefangene bzw. über Haftpsychosen geführt wurden. So kompetent sich Müller im Dschungel bürokratischer Kompetenzen und Zuständigkeiten zurechtfindet, so distanziert bleibt er gegenüber der Lebenswelt der Gefangenen. Er glaubt, eine Betrachtung des Anstaltslebens werde wenig mehr als ,,konstante Repression" zu Tage fördern. Neuere Studien zur Praxis der Anstaltspsychiatrie haben jedoch gezeigt, wie viel Erkenntnisse gerade auf dieser Ebene gewonnen werden können. Hier eröffnen sich Ausgangspunkte für weitere Forschungen. Müllers Studie wird dabei eine unverzichtbare Grundlage bilden.

Andreas Fleiter, Bochum


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