ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Claus-Dieter Krohn/Corinna R. Unger (Hrsg.), Arnold Brecht 1884-1977. Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler in Berlin und New York (Transatlantische Historische Studien, Bd. 27), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2006, 228 S., 10 Abb., geb., 38,00 €.

Der Name Brecht lässt viele zunächst an den bloßen Namensvetter Bertolt denken. Dabei war Arnold Brecht 1932 die wohl berühmtere Größe und zählte in den Jahrzehnten danach zu den prominenteren Namen der rd. eine halbe Million Menschen umfassenden deutschsprachigen Emigration aus dem Nazi-Reich. Gutenteils bekannte, aber auch weniger bekannte Stationen eines langen Lebens haben nun C.-D. Krohn und C. Unger zusammen mit sechs weiteren Autoren in einem verdienstvollen Sammelband beleuchtet. Dabei spannt sich der Bogen von Brechts Jugend im nationalliberalen Lübecker Bürgertum über seine Rolle als Ministerialbeamter im Weimarer Preußen bis zu seiner Lehrtätigkeit an der New Yorker New School for Social Research nach 1933 und seinen Empfehlungen zur Deutschland- und Entspannungspolitik in den 1950er-/1960er-Jahren. Herausgeber Krohn und Michael Ruck haben bereits früher über Brechts Emigranten-Rolle bzw. sein Wirken in der Verwaltung einschlägig publiziert. Andere Beiträger untersuchen das die Parallelität zwischen großer Bevölkerungsdichte und hohen Staatsausgaben postulierende ,,Brecht'sche Gesetz" (Jürgen Kähler) oder widmen sich seinem 1959 preisgekrönten, aber heute fast vergessenen politikwissenschaftlichen Opus ,,Politische Theorie" (Alfons Söllner).

Aus Historikersicht behandelt der Band vor allem zwei im - vom Nationalsozialismus überschatteten - historischen Bewusstsein unterrepräsentierte Stränge: Das demokratische Weimarer Preußen und die vielfache, wenngleich zuweilen nur untergründig wirkungsmächtige Vermittlungstätigkeit von Exilanten zwischen den Westmächten und dem geschlagenen Deutschland in Bezug auf die demokratische Nachkriegsordnung Mitteleuropas. Überblickt man die großen Lebensabschnitte Brechts, so wird auch ein mit der Person sympathisierender Betrachter eine tendenzielle Abnahme von Brechts tagespolitischer Bedeutung konstatieren müssen. Denn die größte realhistorische Wirksamkeit entfaltete Brecht als Ministerialdirektor im Reichsinnenministerium 1921-1927 sowie im Preußischen Staatsministerium zwischen 1927 und antisozialdemokratischem ,,Preußenschlag" 1932 bzw. nationalsozialistischem Machtantritt 1933. Diesen Jahrzehnten hat Brecht auch den Großteil seiner zweibändigen Autobiografie ,,Aus nächster Nähe" sowie ,,Mit der Kraft des Geistes" (1966/67) gewidmet, seiner immer noch lesenswerten politischen Bildungsgeschichte. Brecht schrieb den Entwurf des Republikschutzgesetzes von 1922, und mit der ,,Gemeinsamen Geschäftsordnung der Reichsministerien" entwarf er 1926 eine Büroreform, die die Zentralbehörden der jungen Bundesrepublik 1949 fast unverändert übernehmen konnten. Die damit verknüpfte Farbstift-Hierarchie (Grün = Minister, Rot = Amtschef, blau = Abteilungsleiter) geht aber wohl auf ältere Usancen zurück. Ein anderes langjähriges Projekt Brechts, die Verfassungs- bzw. Verwaltungsreform, die dann in die sogenannte Reichsreform mündeten, kam, wie Heiko Holste demonstriert, nicht recht voran. Starke politische Gegensätze zwischen den Parteien und Ländern verhinderten sowohl die geplante institutionelle Verschmelzung zwischen preußischen und reichischen Institutionen wie die Stärkung des Parlamentarismus durch eine Wahlrechtsreform. Einen dramatischen Höhepunkt erreichte Brechts Wirken mit der Absetzung der preußischen Koalitionsregierung durch Papens ,,Preußenschlag" am 20. Juli 1932. Im folgenden Klageverfahren vor dem Staatsgerichtshof war Brecht eloquenter, letztlich freilich nicht erfolgreicher Hauptbevollmächtigter Preußens. In seiner Rede zur Begrüßung des gerade ernannten Kanzlers Hitler im Reichsrat am 2. Februar 1933 forderte Brecht ihn zur Einhaltung der Reichsverfassung und Beendigung der anhebenden Verfassungsverletzungen auf. Sein Agieren und diese mutige Rede, die NS-Gazetten als Unverschämtheit brandmarkten, erwiesen Brecht als demokratietreuen Beamten - anders als opportunistische Anpasser wie Johannes Popitz oder Eduard Nobis, aber ähnlich wie die gleichfalls exilierten Hermann Badt oder Herbert Weichmann. Den Ablauf der Krise 1932/33 hat Brecht in seinem Buch ,,Vorspiel zum Schweigen. Das Ende der deutschen Republik" (1944, dt. Ausgabe 1948), der ersten wissenschaftlichen Darstellung vor K. D. Brachers ,,Auflösung der Weimarer Republik" (1955) analysiert. Hierin wie in einer Rezension von Brachers Werk wies Brecht den Vorwurf der passiven Hinnahme des ,,Preußenschlags" zurück, und hielt die in der Situation getroffene Entscheidung für juristische Klage für richtig. Brecht argumentierte, dass dies ohne Kenntnis von NS-Diktatur und Weltkrieg sowie angesichts von Reichswehr und Hindenburgs ostentativen Vorbehalten gegen die Nationalsozialisten adäquat gewesen sei.

Nach tastenden Versuchen, die Dienstentlassung seitens der neuen Machthaber durch Hinweis auf sein rechtstreues Handeln als Beamter zu vermeiden sowie kurzzeitiger Verhaftung nahm Brecht ab Herbst 1933 eine Professur an der New School for Social Research wahr, wo auch andere namhafte deutsche Emigranten unterrichteten, u.a. Hans Simons (1893-1972) und Hans Staudinger (1889-1980). Brecht, der 1914 ein Habilitationsangebot in Marburg ausgeschlagen hatte, wechselte damit auf die Seite der Wissenschaft, hielt aber als Berater der US-Regierung weiterhin Kontakt zur politisch aktiven Welt. Schon 1942 publizierte Brecht den weitsichtigen Plan einer European Federation mit Sitz in Straßburg für die Nachkriegswelt und die effektive Durchsetzung der Menschenrechte durch überstaatliche Mechanismen. Eine Rückkehr nach Deutschland erwog Brecht insbesondere 1947, als ihm, wie Corinna Unger quellennah zeigt, Bürgermeister Max Brauer anbot, die Hansestadt Hamburg im bizonalen Wirtschaftsrat zu vertreten. Brecht lehnte letztendlich ab, da er Vorbehalte von Dagebliebenen und Ex-Nazis gegen die Remigranten nach Deutschland voraussah und als Repräsentant des ,,guten Deutschland" in den USA mehr bewirken zu können glaubte. Immerhin amtierte er 1948/49 als Berater der US-Militärregierung OMGUS in Deutschland, schlug zur dauerhaften Demokratisierung u.a. die Abschaffung des überkommenen Berufsbeamtentums vor, was am Widerstand der Länder scheiterte, aber war in Übereinstimmung mit Zeittendenzen erfolgreich beim Föderalismus-Prinzip, das nach der Auflösung des hegemonialen Preußen nun funktionieren konnte. Demokratisierung und Perspektiven der Wiedervereinigung Deutschlands hießen auch die Ziele im Rahmen einer politologischen Gastprofessur, die Brecht bis 1957 an der Universität Heidelberg wahrnahm.

In außenpolitischer Hinsicht plädierte Brecht bereits seit 1947 mehrfach für Abbau von Konfrontation und Annäherung der Blöcke, um so die Teilung Europas und Deutschlands schrittweise zu überwinden - Gedanken, die Herbert Wehner in den 1950er-Jahren bis hin zu seinem Deutschland-Plan von 1959 aufgriff, sodass Michael Ruck Brecht gar als ,,Stichwortgeber und Gewährsmann" des SPD-Politikers ansehen kann. Ein Teil des Nachlasses im Bundesarchiv dokumentiert Brechts zahlreiche politische Briefe an Politiker und Kanzler der Bundesrepublik von Konrad Adenauer bis Helmut Schmidt. Späte Realisierung erfuhren Brechts Ideen über Entspannung und Menschenrechtsforen erst mit dem Amtsantritt Willy Brandts 1969 - gebürtiger Lübecker, Emigrant und sozialer Demokrat wie Brecht selbst.

Als Brecht im Herbst 1977 während eines Deutschlandsbesuchs in Eutin nahe seinem Geburtsort Lübeck starb, war er etablierter Teil jener höchst ehrbaren Gruppe von Emigranten, die als republikanische Akteure der Spätphase von Weimar und amerikanische Bürger dem 1945 auch geistig verwüsteten Deutschland zur Demokratisierung und Anschluss an den Westen verhalfen. Aufgrund des Versagens seiner Generation liege die Welt noch sehr im argen, heißt am Ende seiner Autobiografie, aber neue Generationen besäßen alle Chancen auf ihre weitere Verbesserung. Der quellennahe, anschauliche und perspektivenreiche Band belegt, dass dem demokratietreuen Beamten, innovativen Politologen, klugen Regierungsberater und Schöngeist Arnold Brecht eine moralisch negative Bilanz als Individuum jedenfalls nicht attestiert werden kann.

Hartwin Spenkuch, Berlin


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