ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Friedrich Wilhelm Graf, Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart (Beck'sche Reihe), Verlag C.H. Beck, München 2006, 127 S., kart., 7,90 €.

Den Protestantismus auf etwas mehr als 100 Seiten im Hinblick auf seine Entstehung, Ausbreitung und Wirkung abzuhandeln, dürfte mehr konzeptionellen Aufwand erfordern als die plausible Strukturierung eines auf wenige Spalten beschränkten Lexikonartikels zum gleichen Thema. Von einem Essay wird nicht kondensierte Faktografie in schlichten Hauptsätzen erwartet, sondern eine analytisch wie vor allem sprachlich adäquate Form der Reflexion. Genau das macht die Stärke von Friedrich Wilhelm Grafs Darstellung aus, der nicht nur einem konfessionskundlichen Informationsbedürfnis auf stilistisch hohem Niveau gerecht wird, sondern Strukturprobleme des Protestantismus in Vergangenheit und Gegenwart präsentiert. Graf, der Theologiehistoriker des bürgerlich-liberalen deutschen Kulturprotestantismus in der Tradition von Ernst Troeltsch, ist hier als Deutungsvirtuose des Protestantischen ganz in seinem Element. Seine Abhandlung ist für die an theologie- und konfessionsgeschichtlicher Aufklärung interessierten Kultur- und Sozialwissenschaftler besonders einschlägig, an deren Distanz gegenüber Themen der Konfessions- und Kirchengeschichte die kulturgeschichtliche Trendwende der letzten 20 Jahre zumindest im deutschsprachigen Wissenschaftsraum nur sehr partiell etwas geändert hat. (1)

Grafs Protestantismusportrait ist transparent nach Leitfragen zum Begriff, zur Ausdehnung, zur Binnenpluralität, zum Verhältnis zu Kultur und Welt sowie zur Zukunft der Protestantismen gegliedert. Über den Teilaspekten der Theologie-, Sozial- und Kulturgeschichte seit der Reformation steht die Frage: Was ist protestantisch? Trotz des europäischen Ursprungs und Kontexts des reformatorischen Geschehens ist Grafs Antwort keineswegs eurozentristisch. Sein Interesse gilt vielmehr dem Protestantismus als globalgeschichtlichem Phänomen. Als allen Protestantismen gemeinsam beschreibt er u.a. die Dialektik von erweckter Verinnerlichung und fromm inspirierter Wirksamkeit in der Welt. In der deutschen Protestantismusgeschichte entspreche dem die tiefe innere Spaltung in einen modernitätsfreundlichen Kulturprotestantismus und einen neopietistischen oder konfessionalistisch engen Kirchenprotestantismus zwischen 1800 und 1960. Zur Konkretion dieser konfessionellen Strukturgeschichte führt Graf immer wieder die faszinierende Breite und nachhaltige Prägekraft protestantischer Milieutraditionen gerade für die deutsche Geschichte vor Augen. Sie verbindet die Philosophen Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel mit Dichtern wie Andreas Gryphius, Gotthold Ephraim Lessing und Thomas Mann mit den Politikern Otto von Bismarck, Theodor Heuss und Rudi Dutschke. Schichtungsspezifisch war, so Graf, Protestantismus immer beides: ,,arrogante Elitenreligion und einfacher Kleine-Leute-Glaube" (S. 10). Und das keineswegs nur im deutschen Mutterland der Reformation: ,,Rigorose calvinistische Sittenwächter mit asketisch scharfen, von schmalen Lippen und harten Blicken geprägten Gesichtern sind ebenso Protestanten wie ekstatisch tanzende schwarze Gospel-Sänger in New York City oder lutherische Bauern im Süden Brasiliens, die im Schöpfergott primär den Garanten von Zucht und Ordnung sehen." (Ebd.).

In seiner Begriffsgeschichte des Protestantismus führt Graf vor, auf welche Weise die reformatorischen Grundsätze der Heiligung des Menschen sola scriptura (allein durch die Bibel), sola fide (allein durch den Glauben), sola gratia (allein durch Gnade) und solus Christus (allein durch Christus) einen dynamischen theologischen, soziopolitischen und soziokulturellen Habitus prägten, in dem der Vernunftorientierung, dem Individualismus und der Innerlichkeit zentrale Bedeutung zukommen konnte. Anders als in der ,alten' Kirche traten bei den Anhängern Luthers und Calvins die Kirche als ,Heilsanstalt' und ihre Vertreter als ,Heilswahrer' konsequent in den Hintergrund. Die Religion der Geistigkeit und das Prinzip der Priesterschaft aller Gläubigen vertrugen sich nicht mit dem Gedanken des Frömmigkeitserweises durch gute Werke und Seelenmessen. Der sündige Mensch blieb immer auf Gottes Gnade angewiesen. Gleichwohl, oder vielmehr: gerade deswegen sollte er in seiner Profession rastlos ein Maximum an Leistung und innerweltlichem Erfolg anstreben. Dieser sozialmoralische Kodex war bildungs- und aufstiegsfreundlich. Die soziale Dynamik der Neuzeit entwickelte sich auch maßgeblich auf der Grundlage dieses protestantischen cultural code. Graf zeichnet in großen Linien die Globalisierung des Protestantismus über Wittenberg und Genf in die Welt als eine Geschichte immer weiterer Pluralisierung nach. Etwa seit der Mitte des 20. Jahrhunderts liege der Wachstumsschwerpunkt protestantischer Denominationen und dabei insbesondere charismatischer Gruppierungen in Afrika und Asien, hier vor allem in Südkorea: ,,Die einstmals dominant europäische und nordamerikanische Sozialgestalt des protestantischen Christentums wird zunehmend zu einer außereuropäischen Religion." (S. 23). Unter Verweis auf die Typologie von Johannes Wallmann teilt Graf die Protestantismusmodelle in Monopolprotestantismen wie in den skandinavischen Ländern, anerkannte Protestantismen wie im konfessionell gespaltenen Deutschland und Minderheitenprotestantismen wie u.a. in Frankreich ein. Von diesem Raster grenzt Graf die vollständig andere Entwicklung auf dem nordamerikanischen religiösen Markt ab.

Ein konfessionskundliches Kapitel stellt die großen protestantischen Konfessionsfamilien der Lutheraner, Reformierten, Anglikaner, Baptisten, Methodisten und Pfingstler vor. Graf legt hier den Schwerpunkt auf den Charakter der Frömmigkeit und den sozialen Habitus der Gläubigen, so dass auch der theologisch nicht Vorgebildete einen guten Eindruck vom Selbstbild und Weltverständnis, von Zeitwahrnehmung, Moralverständnis und Modernisierungsoffenheit der Konfessionen, Denominationen bzw. Sekten nach unserem - laut Graf zu engen - deutschen Verständnis bekommen kann. Die mentalitätsprägenden Wirkungen der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre und der Lehre vom weltlichen Beruf des Christen, des calvinistischen Widerstandsrechts gegen eine nicht gottgefällige Herrschaft, der anglikanischen Entwicklung zur englischen Hochkirche werden so als historische Faktoren ersten Ranges nachvollziehbar. Besondere Aufmerksamkeit widmet Graf der Charakterisierung charismatischer und fundamentalistischer Pfingstler in den USA und in Schwellenländern, deren äußerst heterogenes Spektrum die derzeit größte Dynamik aller Protestantismen zu besitzen scheint und die konfessionskulturelle Adaptionsfähigkeit des Protestantischen eindrucksvoll unter Beweis stellt.

In dem Kapitel über Protestantismus und Kultur entwirft Graf das Panorama protestantischer Identitätsentwicklung u.a. durch die sinnstiftende Überformung von Geschichtsbildern und Nationalismen. Hinsichtlich dieser Erfindung von Traditionen erkennt Graf eine ,,erstaunliche Konstanz von symbolischen Identitätsmustern, Selbstdefinitionen, Figuren der Abgrenzung, polemischen Stereotypen, Vorurteilen und Repräsentationen des Eigenen und Anderen." (S. 63). Dem korrespondiere jedoch eine bemerkenswerte Aufwertung der Individualität, der Freiheit der Wissenschaft, der Verinnerlichung des Leistungsprinzips, der Vernunftorientierung und Moralisierung des Politischen. Im Unterkapitel über den Protestantismus als Bildungsmacht führt Graf die Ambivalenz kultureller Hegemonievorstellungen in protestantischen Gesellschaften gegenüber Katholiken, aber auch gegenüber Juden vor.

Das Fazit zu diesem schmalem Band lautet also: Friedrich Wilhelm Graf hat den Titel seines Essays eingelöst und das Kunststück vollbracht, auf knappem Raum anspruchsvoll von dem Protestantismus zu handeln.

Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe

Fußnoten:


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