ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Peter Hübner/Christoph Kleßmann/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit (Zeithistorische Studien, Bd. 31), Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2005, 515 S., 47 Abb., geb., 57,90 €.

Mit dem Untergang der Arbeiter-und-Bauern-Staaten, den kommunistischen Systemen Ost- und Ostmitteleuropas geriet ein Gesellschaftsmitglied aus den Augen vieler Historiker, das von den Sechziger- bis zu den Achtzigerjahren in der Historiografie omnipräsent war: der Arbeiter. Die Geschichte der Arbeiter, der Arbeiterbewegung, der Arbeiterkultur und zuweilen der Arbeiterklasse stellte in Ost- wie Westeuropa, wenn auch methodisch und theoretisch erheblich differierend, eine zentrale Säule der Historiografien dar. Die europäische Revolution von 1989/91 schien ,,die Arbeiter" als Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Arbeiten marginalisiert zu haben. Erst in den letzten Jahren zeigte sich, dass diese Marginalisierung zeitbedingt und von kurzer Dauer war. Monografien und Sammelbände zeugen davon, dass die Historiografie sich auch der Arbeitergeschichte im Kommunismus widmet. Nach einem Studienband von 1999 (1), der sich der DDR-Geschichte widmete, weitet der hier anzuzeigende Band die Perspektiven beträchtlich aus und untersucht verschiedene Aspekte der europäischen Kommunismusgeschichte.

In der Parteiikonografie der meisten kommunistischen Staaten nahm ,,der" Arbeiter eine überragende Stellung ein. Bilder, Fotos, Plastiken von Arbeitern schmückten Dorfanger ebenso wie pompöse Aufmarschplätze oder urbane Repräsentationsbauten. Im kommunistischen Selbstverständnis galt die Arbeiterklasse als ,,revolutionärste Klasse in der Geschichte der Menschheit". (2) Marx und Engels hatten ihr als ,,Klasse für sich" eine ,,historische Mission" zugeschrieben: die revolutionäre Beseitigung des Kapitalismus und den Aufbau des Sozialismus/Kommunismus. Da die ,,Klasse an sich" mit dem Bewusstsein einige nicht ganz gesetzmäßige Probleme hatte, ist als Vorkämpferin der Arbeiterinteressen eine Partei postuliert worden, die Lenin später als ,,Partei neuen Typus" apostrophierte. Kommunisten waren sich stets einig in der Annahme, dass das ,,Hauptziel aller Gegner" darin bestünde, ,,unter beliebigen Vorwänden die Notwendigkeit der Errichtung der Macht der Arbeiterklasse nach dem Sieg der sozialistischen Revolution zu leugnen." Tatsächlich sei die ,,Errichtung der Diktatur des Proletariats [...] die wichtigste historische Gesetzmäßigkeit, ein notwendiges Merkmal der sozialistischen Revolution". (3)

Demzufolge erlebte der Arbeiter im Sozialismus/Kommunismus eine gesellschaftspolitische Aufwertung und Überhöhung, die zwar dem theoretischen Anspruch des Systems genügt haben mag, die aber zugleich mit den gesellschaftlichen Realitäten kaum kompatibel schien. Wie die meisten Beiträge in dem Sammelband verdeutlichen, reagierten die herrschenden Kommunisten auf Proteste und Streiks aus der Arbeiterschaft äußerst sensibel. Nicht nur in der DDR ist nach der gescheiterten Revolution vom Frühsommer 1953, die vielen im Kern als Arbeiteraufstand gilt, eine Sozialpolitik entwickelt worden, die im Zentrum die Arbeiterschaft sah. Viele sprachen von der Verhätschelung der Arbeiter, was angesichts der vielschichtigen Erscheinungen der Mangelgesellschaft übertrieben war. Zugleich aber zeigte die sozialpolitische Bevorzugung der Arbeiterschaft an, dass die herrschenden Kommunisten keiner anderen gesellschaftlichen Großgruppe so angstvoll und respektvoll begegneten wie der Arbeiterschaft. Immerhin gaben sie ja vor, deren Interessen zu vertreten.

Der Band ist in drei Kapitel mit jeweils fünf bis acht Einzelbeiträgen, die fast immer Fallstudien gleichkommen, gegliedert. In einem Grundsatzbeitrag geht Klaus Tenfelde auf die Bedeutung der Arbeiterhistoriografie für die Geschichte des 20. Jahrhunderts ein, wobei er nicht nur überzeugend große und komparatistische Linien zu zeichnen versteht, sondern auch die prinzipielle Andersartigkeit von Arbeitergeschichte Ost und Arbeitergeschichte West betont. Den drei Abschnitten sind jeweils problemorientierte Zusammenfassungen vorangestellt, die den Lesern und Leserinnen einen schnellen und zuverlässigen Überblick bieten, was in den einzelnen Beiträgen behandelt wird und welche Thesen vertreten werden.

Der besondere Vorzug des auf eine 2003 in Potsdam durchgeführte Konferenz zurückgehenden Buches besteht nicht so sehr in neuen, womöglich spektakulären Thesen, sondern eher in nüchternen empirischen Darstellungen einerseits etwa über Einkommensverhältnisse im Ostblock (André Steiner), Kulturarbeit in Industriebetrieben (Annette Schuhmann) oder Alltagsleben in einem Warschauer Betrieb (Małgorzata Mazurek). Andererseits kommt eine Reihe von Studien zum Abdruck, die einen guten Überblick über allgemeine Problemlagen in einzelnen Ländern behandeln, so über die UdSSR (Dietrich Beyrau), Bulgarien (Ivo Georgiev), ČSSR (Lenka Kalinová), Ungarn (Anikó Eszter Bartha sowie Mark Pittaway), Rumänien (Dragoş Petrescu) oder Polen (Jędrzei Chumiński/Krzysztof Ruchniewicz).

Obwohl der Band komparatistische Sichtweisen nahe legt, kommen diese explizit nur in wenigen Studien zum tragen (z. B. bei André Steiner, Peter Hübner oder Christoph Boyer). Der Band hat den Charakter eines Readers, der die aktuelle Forschungsdiskussion ebenso spiegelt wie den aktuellen Forschungsstand selbst. Er unterstreicht auf vielfache Weise den klaffenden Widerspruch zwischen hohen ideologischen Ansprüchen der herrschenden Kommunisten und der im krassen Gegensatz dazu stehenden sozialen Wirklichkeit. Auch wenn diese sich zuweilen verbessert haben mag, der Kommunismus ging nicht nur an fehlender Freiheit zugrunde, auch die systemtypischen und dem System immanenten materiellen Mängel haben nicht zuletzt in der Arbeiterschaft für Distanz und Ablehnung gesorgt. Zumindest in Polen und in Rumänien, aber auch in Teilen der Sowjetunion bildeten die Arbeiter in den Achtzigerjahren eine wichtige Säule der Proteste und letztlich auch der Systemstürze. Warum sich aber Distanz und Ablehnung in den meisten kommunistischen Staaten immer seltener in Streiks und anderen Arbeiterprotesten äußerten, warum ,,1989" die Arbeiter eher abseits standen als im Zentrum, muss auch nach diesem Band weiterhin debattiert werden. Für diese Diskussion gibt dieser Band viele wertvolle Hinweise und Anregungen. Er unterstreicht die Wichtigkeit des Themas, bezeugt aber auch zugleich, dass das Thema weder angemessen ausgeleuchtet noch auch nur ansatzweise ,,überforscht" ist.

Ilko-Sascha Kowalczuk, Berlin

Fußnoten:


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 31. Mai 2007