ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Patrick Bernhard, Zivildienst zwischen Reform und Revolte. Eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961-1982 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 64), Oldenbourg Verlag, München 2005, 462 S., geb. Ln, 49,80 €.

Das Recht zur Verweigerung des Kriesgdienstes mit der Waffe gehört zu den zentralen Bestandteilen des Grundgesetzes: Niemand darf gegen sein Gewissen dazu gezwungen werrden, Kriegsdienst zu leisten. Vom Parlamentarischen Rat noch kontrovers diskutiert, wurde die Institution zu einer bundesdeutschen Erfolgsgeschichte. Im Jahre 1968 überschritt die Zahl der Kriegsdienstverweigerer in der offiziellen Statistik zum ersten Mal die Marke 10.000. 1970 gab es bereits 20.000 sogenannter Zivildienstleistender. In den 1990er-Jahren stieg die Zahl auf rund 140 000 an. Galten Zivildienstleistende noch bis in die Siebzigerjahre hinein als ,,Drückeberger", so erscheinen sie heute als ,,Helden des Alltags". Diese Studie, eine für den Druck überarbeitete an der Universität München angenommene Dissertation, bietet die erste historische und auf der Auswertung einschlägiger Quellen basierende Untersuchung dieser Institution. Patrick Bernhards Ziel ist es dabei, Institutionengeschichte und Geschichte des gesellschaftlichen Wandels zu verbinden.

Das erste Kapitel des Buches erzählt die Vorgeschichte seit 1918 in europäisch-vergleichender Perspektive. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Institutionalisierung der Kriegdienstverweigerung im Grundgesetz sowie den Debatten zu Verrechtlichung des Anerkennungsprozesses, welche im ,,Gesetz über den zivilen Ersatzdienst" von 1960 kulminierten. Das zweite Kapitel geht auf die Organisation und Praxis von Zivildienst ,,vor der Revolte", also bis 1967, ein. Besonders interessant ist dabei die Berücksichtigung auch alltagshistorischer Probleme wie Fragen der Unterbringung und Arbeitsdisziplin.

Der Hauptteil der Arbeit widmet sich der Wahrnehmung der Studentenrevolte innerhalb der Zivildienst-Organisation von 1967/8 und arbeitet einen Wertewandel unter Zivildienstleistenden und innerhalb der Zivildienstverwaltung heraus. Dieser Wertewandel trug, so Bernhard, maßgeblich zur Debatte um die Reform des Kriegsdienstverweigerungsrechts im Zeitraum zwischen 1970 und 1978 bei. Die sozialliberale Bundesregierung scheiterte allerdings mit ihren Plänen, das Prüfungsverfahren zu entschärfen am Einspruch des Bundesverfassungsgerichts - erst die christdemokratisch-liberale Koalition der 1980er-Jahre ersetzte das Prüfungs- durch das einfachere und bis heute bestehende Feststellungsverfahren.

Der analytische Ansatz der Arbeit, gesellschaftlichen Wandel und Zivildienst miteinander zu verbinden, kann nicht voll und ganz befriedigen. Man hätte gerne mehr darüber erfahren, wie denn die Einrichtung und Praxis des Zivildienstes mit den Gewalterfahrungen des Zweiten Weltkrieges, Umdeutungen hegemonialer Männlichkeit unmittelbar nach dem Krieg und, damit verbunden, ganz anderen Definitionen von Staatsbürgerlichkeit einherging. Gerade die unterschiedlichen Semantiken von ,,Kriegsdienstverweigerung" und ,,Zivildienst" hätten in diesem Zusammenhang mehr Beachtung verdient.

Auf einer grundlegenden Ebene sind auch Bedenken gegenüber der narrativen Parallelisierung eines angeblichen Wertewandels in der westdeutschen Gesellschaft und der Entwicklung des Zivildienstes angebracht - eine Interpretation, welche die Differenziertheit und Komplexität der bundesdeutschen Gesellschaft vernachlässigt. Ist es wirklich plausibel, von den in den Verweigerungsbriefen genannten Gründen direkt auf die tatsächlichen Motive der Verweigerer zu schließen und von diesen auf gesamt-gesellschaftliche Wandlungsprozesse? - Man wäre hier vielleicht mit einem organisationssoziologischen Ansatz weiter gekommen, welcher sich auf Kommunikation als grundlegende soziale Operation konzentriert und so den Zusammenhang von Wahrnehmung und Veränderung gesellschaftlich akzeptierter Kommunikationscodes thematisiert. Auf diese Weise könnten dann Wahrnehmungen von Wertewandel, disziplinarischen Problemen und ,,Krise" nicht einfach als gesellschaftliche Realität, sondern als ,,Beobachtungen zweiter Ordnung" (Niklas Luhmann) erscheinen. Hier hätte man dann auch Vergleiche zur Organisationskultur des Wehrdienstes ziehen können.

Diese Kritik am Ansatz soll allerdings den ganz bedeutenden empirischen Beitrag, den diese Studie erbringt, nicht mindern. Denn in der Tat handelt es sich hier um eine sehr solide moderne Organisationsgeschichte, wie man sie in dieser Gründlichkeit nur noch selten findet, und die auch Wahrnehmungen und kulturelle Faktoren systematisch in die Analyse einbezieht. Die Arbeit ist flüssig geschrieben und zeigt eine beachtenswerte analytische Beherrschung des Quellenmaterials über einen langen Zeitraum hinweg. Sie legt damit die wichtige solide Grundlage für weitere Forschungen. Ihr ist eine breitere Aufmerksamkeit über den Kreis der an der Friedensforschung interessierten Historiker/innen hinaus zu wünschen.

Holger Nehring, Sheffield


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 31. Mai 2007