ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Mike Davis, Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter. Aus dem Amerikanischen übersetzt und bearbeitet von Ingrid Scherf, Britta Grell, Jürgen Pelzer, Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg/Göttingen 2004, 460 S., mit zahlr. Abb., Karten u. Tab., kart., 29,90 €.

In Abwandlung zu David Landes "Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind" (dt. Ausgabe München 1998), dessen Titel natürlich an das weitaus berühmtere Werk von Adam Smith angelehnt ist, könnte Mike Davis' Buch den Untertitel ,,Elend und Reichtum der Völker" tragen. Im Unterschied zu Landes, der in sattsam bekannter und daher wenig erhellender Manier einer westlichen Geschichtsnarration frönt, bietet Davis einen erfrischenden globalgeschichtlichen Überblick zur Entstehung weltweiter ökonomischer und sozialer Ungleichheit, wie sie so kennzeichnend wird für das 20. Jahrhundert. Was in den westlichen Medien meist unkritisch als ,,Dritte Welt" diffamiert wird, betrifft nicht nur drei Viertel der Menschheit oder mehr als vier Milliarden Menschen, sondern lässt vielfach außer Acht, dass diese radikale ungleiche Verteilung von Reichtum, Wohlstand und Sicherheit im 18. Jahrhundert in globaler Perspektive noch nicht zu erkennen war.

Nicht die Entstehung von Reichtum als vielmehr die Erzeugung von Armut und Elend steht im Mittelpunkt der Fragen, zu denen Davis Antworten anbieten will. Die politische und vor allem wirtschaftliche Integration der Welt oder kurz dessen, was gegenwärtig mit dem diffusen Schlagwort ,,Globalisierung" bezeichnet wird, liefert den Hintergrund, vor dem sich die klimatischen Katastrophen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich in tödlich verlaufende Dürrejahre und Hungerepidemien entwickeln. Sie fanden folglich nicht außerhalb des ,,modernen Weltsystems" statt, sondern sind dessen integrale Bestandteile.

Global zu verzeichnende Klimaschwankungen, ausgelöst durch ENSO (El Niño - Southern Oscillation), führten, so eine der zentralen Thesen von Davis, in Indien, Indonesien, China, Afrika und Teilen Südamerikas zu bislang ungekannten Dürreperioden, weltweit erstmals beobachtet 1876-79, erneut 1896-1900 und nochmals 1972-74. Wie der Autor anhand der britischen Hungerpolitik aufdeckt, waren es überwiegend politische Entscheidungen, die durch Gremien oder einzelne Machthaber in London und Calcutta getroffen wurden, welche in utilitaristischer Weise Arme als faule Sozialschmarotzer denunzierte und ihnen deshalb auch in Hungerzeiten keine kostenlose Hilfe zukommen lassen wollten. Ein entscheidendes Argument Davis' für die Pauperisierung und Verelendung der Bauern ist deren im kolonial-kapitalistischen Regime Britisch-Indiens seit dem 19. Jahrhundert abnehmende Fähigkeit, ihre Subsistenzökonomie, die auf kleinräumigen Bewässerungssystemen, Kurzkrediten und Nutzfrüchten wie Zuckerrohr und Baumwolle als Zubrot basierte, aufrecht erhalten zu können.

Statt diese lokalen Strukturen wenigstens teilweise zu erhalten, förderten die Briten einseitig den Anbau von ,,cash crops", darunter zunehmend auch Weizen und Reis, die zu Weltmarktkonditionen gehandelt wurden, was dazu führte, dass Britisch-Indien selbst in Hungerjahren Getreide zu guten Preisen exportierte, wenngleich das auf dem lokalen Markt gehortete und daher überteuerte Getreide mit dem schwer verdienten und knappen Geld nicht erschwinglich war. Zudem erachteten die Briten Dürren als Defekte des Klimas und Hunger als ein Problem der Distribution, weshalb Kanäle respektive Eisenbahnlinien Abhilfe schaffen sollten. Doch die auch auf diese Weise voran getriebene Kommerzialisierung der Landwirtschaft bewirkte das meist das Gegenteil.

Positiv zu vermerken ist, dass Davis nicht allein die Briten als Akteure vorstellt, sondern immer wieder, und das gilt auch für China, die regional und lokal organisierten Widerstände und Rebellionen der Bevölkerung thematisiert, die nicht passive Beobachter des Geschehens blieben. In China riefen die Vernachlässigung der Bewässerungsanlagen, vor allem die der größeren Kanäle, und die Eindeichung des Gelben Flusses zu Gunsten von Militärinvestitionen, die zur Bekämpfung der Taiping-Rebellion (1851-1864) aufgebracht wurden, massive ökologische Katastrophen hervor. Extreme klimatische Schwankungen, ausgelöst durch ENSO, führten zu verheerenden Fluten oder dramatischen Dürren, deren Folgen durch korrupte und hortende Beamte noch verstärkt wurden und millionenfachen Hungertod nach sich zogen.

In China wie auch in Indien stagnierte entgegen dem landläufigen Vorurteil in Europa, die Bevölkerungszunahme aufgrund von Dürren, Hunger und Kriegen. In beiden Weltregionen, aber auch in Afrika und Brasilien, boten die zum großen Teil von Menschen gemachten Hungerkatastrophen den expansiven europäischen Imperialmächten und allen voran Großbritannien die einzigartige Chance, mit dem Rhythmus der Naturkatastrophen die kolonial-imperiale Penetration von bislang dem Weltmarkt verschlossenen Gebieten systematisch voranzutreiben. Aufs Ganze gesehen kann Mike Davis diesen globalen Kontext von Klimaschwankungen, Naturkatastrophen, durch Politiker verursachte Hungerepidemien und europäischer Expansion überzeugend aufzeigen.

Im Detail ergeben sich jedoch einige und zum Teil gravierende Probleme. Zum einen fällt auf, dass Davis' Literaturgrundlage zu Britisch-Indien auf Spezialabhandlungen beruht, während zu China, Afrika und Brasilien überwiegend Standardmonografien herangezogen werden. So sind denn auch die Ausführungen zu Indien weitaus detaillierter und analytischer als die bisweilen kursorischen zu den restlichen Regionen der Welt, die zweifelsohne in ähnlichem Maß von der ,,politischen Ökologie" betroffen waren. Dieses unübersehbare Ungleichgewicht lässt den Endruck entstehen, Indien sei das Hauptopfer gewesen, während der ,,Rest der Welt" bisweilen als Randgebiete des Hungerelends und der Dürrem erscheinen, was sicherlich nicht intendiert war.

Zum anderen ist es methodologisch etwas fragwürdig, als einziges Korrektiv zu britischen Zitaten zeitgenössischer Akteure ausschließlich US-amerikanische Missionare zu Wort kommen zu lassen. Deutschsprachige Quellen der zahlreichen evangelischen Missionen hätten die Quellengrundlage wesentlich bereichert, wären aber wohl ein sprachliches Problem für Davis gewesen. Allerdings muss zugestanden werden, dass die 'demokratischen Amerikaner' dem despotischen Kolonialregime der Briten höchst kritisch gegenüber standen und besonders auf den politisch-humanitären Kontext hinwiesen.

Der dritte Teil des Buches, ,,Die Dechiffrierung von ENSO" betitelt, ist auch mit seinen knapp 70 Seiten immer noch zu umfangreich, zumal bei der Lektüre der Eindruck entsteht, dass das Klima-/Wetterphänomen ENSO alles andere als befriedigend erforscht ist und Aussagen im historischen Kontext nicht unbedingt überzeugen mögen. Warum es zu einer Verdichtung und Häufung der ENSO-Schwankungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gekommen ist, bleibt ebenso ungeklärt wie der angedeutete Zusammenhang vom Raubbau an den Wäldern der Welt, der lokale Klimaveränderungen einschließlich der Verwüstung semi-arider Zonen angeblich nachweislich bewirkt hat. Ob und inwieweit das zu globalen Klimaveränderungen inklusive der Auswirkungen auf ENSO gehabt hat, dürfte kaum mehr zu rekonstruieren sein.

Und schließlich birgt der Untertitel den Buches ,,Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter" auch in der Übertragung große Schwierigkeiten - das amerikanische Original trägt den Titel: Late Victorian Holocausts. El Niño Famines and the Making of the Third World" . Um Assoziationen mit der Shoah zu Zeiten den Nazi-Regimes in Europa zu vermeiden, entschieden sich der Verlag und die Übersetzer wohl für diese Umstellung und auch die Vermeidung des Begriffs Holocaust. Freilich verhindert das nicht, dass im Text der wissentlich herbeigeführte und billigend in Kauf genommene Hungertod von Millionen Indern gerade während der Dürre- und Hungerjahre 1876-79 mit einem ,,modernen Nuklearkrieg" gleichgesetzt wird (S. 121), von bürokratisch angeordneten ,,massenhaften Morden" (S. 59) und vom ,,staatlich angeordneten Völkermord" in Brasilien (S. 193) die Rede ist oder direkte Vergleiche zum nationalsozialistischen Verbrecherregime (S. 47) gezogen werden. Hier sollte doch eher und zuerst einmal nach der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und der ihrer inhärenten Gefahr einer inhumanen bis faschistischen Gesellschaftsordnung gefragt werden.

Mike Davis' an sich gutes Buch ist also mit einem gewissen Vorbehalt zu lesen, um sich nicht in den Strudel der oft moralisierenden Darstellung ziehen zu lassen. Gleichwohl besteht ihr Verdienst in der Zusammenführung global bislang separat betrachteter Entwicklungen unter dem Aspekt der ,,politischen Ökologie", ein Ansatz, der durch die Forschung bislang sträflichst vernachlässigt worden ist. Als Beitrag zur Globalgeschichte wird das Buch seinen Platz in den Bibliotheksregalen zu Recht einnehmen.

Michael Mann, Hagen und Heidelberg


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 31. Mai 2007