ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Bastian Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt. Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste zwischen Reform und Revolte 1959-1974 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 65), Oldenbourg Verlag, München 2006, 334 S., geb., 39,80 €.

In seiner im Rahmen des Projekts ,,Reform und Revolte. Politischer und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik in den 1960er und frühen 1970er Jahren" am Institut für Zeitgeschichte, München, entstandenen Dissertation untersucht Bastian Hein die Leitlinien und Institutionen bundesdeutscher Entwicklungspolitik von ihren Anfängen bis 1974, dem Ende der Amtszeit Erhard Epplers als Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Um es gleich zu sagen: Hein hat eine grundlegende, sehr lesenswerte Studie zu den ersten Jahren bundesdeutscher Entwicklungspolitik vorgelegt. Ihre Verdienste liegen neben dem Status einer Pionierarbeit und den oben genannten Befunden nicht zuletzt darin, umfassend neuartige, noch nicht vollständig erfasste, schwer zugängliche Quellenbestände aus den Hausarchiven des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED), des Evangelischen Entwicklungsdienstes, der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe und des ,,Arbeitskreises Lernen und Helfen in Übersee" historisch zu erschließen.

Besonderes Augenmerk legt Hein auf entwicklungspolitische Debatten in der Bundesrepublik Deutschland, wie der grundlegenden Kritik an jeglicher ,,Entwicklungshilfe" in der ,,Dritten Welt" von konservativer ebenso wie von progressiver Seite Mitte der 1960er-Jahre (S. 100-103, 129-146). An Institutionen wird entsprechend seiner Bedeutung vor allem der DED in den Blick genommen, während die kirchlichen Hilfsorganisationen, private Initiativen und das Engagement auf kommunaler bzw. privater Ebene wenig berücksichtigt werden. In fünf chronologisch gegliederten Kapiteln untersucht Hein schwerpunktmäßig die Entstehung und Veränderungen des DED, an der die Demokratisierungsbemühungen der 1960er-Jahre und deren Ergebnisse institutionell aufgezeigt werden - beispielsweise durch die Verwaltungsreform der entsendenden Dienste und die steigende betriebliche und konzeptionelle Mitbestimmung der Entwicklungshelfer/innen (S. 202-229). Parallel werden chronologisch die wichtigsten Grundsätze der westdeutschen ,,Entwicklungshilfe" in ihrem Wandel untersucht. So zeichnet Hein ausführlich den Wechsel der um Entwicklung und Kriseninterventionen in der ,,Dritten Welt" bedachten Ansätze (S. 37-39, 189-240) zur Prämisse bundesdeutscher wirtschaftspolitischer Interessen (S. 241-288) nach.

Über den engeren Untersuchungsrahmen hinaus benutzt Hein die Frühzeit westdeutscher ,,Entwicklungshilfe" als Sonde, um die vorliegenden Meistererzählung zur Geschichte der ,,langen 1960er-Jahre" als Jahrzehnt der Fundamentalliberalisierung und -kritik zu hinterfragen. Entgegen dieser Meistererzählungen gelingt es ihm, die Ambivalenz dieser Jahre zu verdeutlichen, die von ,,hartnäckiger ,Abwehr des Reformdrangs'" bis zur ,,Rückkehr tradierter Verhaltensmuster" reichte (S. 3, 308, 310).

Einleuchtend weist Hein außerdem nach, wie kontrovers ,,Entwicklungshilfe" von Anfang an in der Bundesrepublik durch alle politischen Lager hindurch beurteilt wurde. Für ein besonders wichtiges Ergebnis halte ich den Befund, dass sich Mitte der 1960er-Jahre beispielsweise um Hans Magnus Enzensberger eine ,,entwicklungspolitische Avantgarde" formierte, die im Gefolge von Frantz Fanon und anderen Denkern der Dritten Welt bundesdeutscher ,,Entwicklungshilfe" generell das Etikett eines ,,eurozentrischen Kulturimperialismus" attestierte (S. 129). Bereits zu dieser Zeit wurde massive Kritik geübt am unweigerlichen Glauben an die Vorteile der Industrialisierung der ,,Dritten Welt", den Export europäischer Techniken und Produkte sowie der Geringschätzung des indigenen Wissens. ,,Entwicklungshilfe" gleich welcher Art - so die zeitgenössische Kritik - sei nichts anderes als ,,ein im Kern neokolonialistisches Machtinstrument" (S. 143).

Von Heins grundlegender Arbeit ausgehend eröffnen sich zahlreiche weiterführende Fragen und Perspektiven, die Forschungen zur Geschichte von ,,Entwicklungshilfe" in den nächsten Jahren vorantreiben könnten. Im Rahmen einer integrierten Nachkriegsgeschichte ist es beispielsweise sinnvoll, die westdeutsche ,,Entwicklungshilfe" mit der ostdeutschen ,,Solidarität" zu vergleichen bzw. in Zusammenschau zu analysieren. Dies würde nicht allein die Konkurrenzen beider deutscher Staaten und ihrer Blöcke in der ,,Dritten Welt" erschließen, sondern auch deren Vernetzungen und Ähnlichkeiten in Zielsetzungen und Praktiken.

Gleiches gilt für die Einbettung der bundesdeutschen Entwicklungen in die Aktivitäten der USA und der anderen europäischen Staaten. Hein spricht zwar an, dass die USA maßgeblich das entwicklungspolitische Engagement der Bundesrepublik mit angestoßen hat (S. 32-33), erörtert allerdings themenbedingt nicht, ob und inwiefern Institutionen der nordamerikanischen, britischen oder französischen ,,Entwicklungshilfe" - wie beispielsweise die ,,Peace Corps" der USA - für die westdeutschen Verhältnisse maßgeblich waren. Eine solche auf internationale Verflechtungen gerichtete Perspektive lässt allerdings erst die Dimensionen der globalen Machtstrukturen der ,,Ersten Welt" über die ,,Dritte Welt" erkennen, die nicht zuletzt auch in Hilfsnetzwerken eingeflochten waren. Auch ließe dieser Blickwinkel erschließen, welchen Sonderstatus Deutschland nach 1945 im Entkolonialisierungsprozess und als entwicklungspolitisches Geberland einnahm. Ein solcher Sonderstatus ist durchaus nahe liegend, artikulierten die westeuropäischen Staaten häufig eine besondere Verpflichtung der Bundesrepublik für die ,,Dritte Welt", sozusagen als Sühne für im Zweiten Weltkrieg verübte Verbrechen. Außerdem verlor Deutschland bekanntermaßen seine Kolonien bereits nach dem Ersten Weltkrieg. In seinen entwicklungspolitischen Institutionen konnte man in den 1950er-Jahren daher kaum - wie in anderen europäischen Staaten - auf noch lebende Kolonialbeamte als künftige Entwicklungsexperten zurückgreifen. Was dieser Sonderstatus für beide deutsche Staaten und ihre Entwicklungspolitik wiederum impliziert, wäre genauer herauszuarbeiten.

Außerdem wird künftig stärker, als dies Hein leisten konnte, auf die Rolle der unmittelbar Beteiligten in der ,,Entwicklungshilfe", auf ihre Utopien, Ziele, ,,Erfahrungen", Praktiken und Frustrationen zu achten sein. Dabei wird es nicht nur darum gehen, dass sich historisch wandelnde Selbstverständnis der Entwicklungshelfer/innen und Experten/innen zu hinterfragen, auf dessen Bedeutung Hein selbst hinweist (S. 28). Vielmehr werden zumindest in Fallstudien die Begegnungen zwischen diesen Akteur/innen und ihren Counterparts in den Blick zu nehmen sein. Denn erst diese Perspektive verspricht Verflechtungen, Differenzen und Konflikte zwischen entwicklungspolitischen Institutionen, Absichten und Praktiken sichtbar zu machen. Nicht zuletzt ist es mittlerweile gerade bei einem Gegenstand wie der ,,Entwicklungshilfe" mit Recht unverzichtbar, ganz konkret nach den Wahrnehmungen und ,,Erfahrungen" europäischer Akteure/innen und Praktiken durch Menschen in Afrika, Asien oder Südamerika zu fragen. Auch dies kann und will Heins Arbeit nicht leisten. Doch mindern diese Leerstellen keineswegs Heins Studie. Sie sind nicht dem Autor selbst anzulasten, sondern dem Charakter der Studie, die sich zunächst notwendigerweise institutionellen Entwicklungen und innenpolitischen Debatten zuwendet. Künftige Arbeiten zur ,,Entwicklungshilfe" sollten diese erstklassige Grundlagenarbeit - um dies abschließend noch einmal herauszustellen - mit Gewinn zur Kenntnis nehmen.

Hubertus Büschel, Potsdam


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