Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Ulrike von Hirschhausen, Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860-1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 172), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, 430 S., kart., 49,90 €.
Strukturgeschichtliche Ansätze zur unterschiedlichen Nationalisierung einzelner Kollektive sind in den letzten Jahren zunehmend von der historischen Forschung durch kulturgeschichtliche Bezüge erweitert worden. Strukturmerkmalen wie sozialer Status, Klassenzugehörigkeit und Erwerbsstruktur wurden Figurationen kultureller Lebensführung und religiöse Wertbezüge an die Seite gestellt, um spezifische Dynamiken von nationalen Identitätsprozessen erfassen zu können.
Da jedoch weder soziale als auch ethnische Kollektive historisch betrachtet statische Einheiten darstellen, noch Identität als kohärentes Ensemble von Klassenlage und Lebensstil fungiert, ist vor allem in urbanen multiethnischen Gesellschaften eine differenziertere Betrachtungsweise ratsam. Denn gerade in den europäischen ,,Zwischenräumen" nationalstaatlich definierter Reiche, wie dem Kaiserreich, dem Habsburger Reich oder dem Zarenreich, scheint die Frage nach nationalen Bindungen einzelner Kollektive nicht so einfach zu beantworten zu sein. Multiethnizität war in diesen Gebieten Normalfall alltäglicher Verständigung über soziale, wirtschaftliche, kulturelle und eben auch nationale Deutungsmuster.
Ulrike von Hirschhausen widmet sich nun in einer sehr gelungenen Studie den vielschichtigen Beziehungen zwischen Deutschen, Letten, Russen und Juden in Riga zwischen 1860 und 1914. Wie die Autorin in einer prägnanten Einleitung verdeutlicht, waren auch hier die Interpretationen von Region, Nation oder Reich weder einheitlich noch als stabile Größe verbindlich. Gerade in Riga, wo deutsche, lettische, russische und jüdische Kulturen in direkter Nachbarschaft aufeinander trafen, wurde offensichtlich, dass es sich bei Nationalkulturen nicht um geschlossene Systeme handelte und verschiedene Bezugsgrößen auf die ,,Pluralität der historischen Identitätswahl" wirkten. Daher fordert von Hirschhausen den Abschied ,,vom methodischen Nationalismus" und erweitert sinnvoll den von M. Rainer Lepsius geprägten Begriff des ,,sozialmoralischen Milieus" um die Komponente ethnischer Loyalität.
Wie sich die vier ethnischen Milieus aufeinander bezogen aber auch voneinander abgrenzten, geht die Autorin in fünf Kapiteln nach. Nach einem faszinierenden Überblick über den demografischen, sozialen und ökonomischen Wandel in Riga, schließt sich im zweiten Abschnitt eine Darstellung zur Formierung beziehungsweise Verfestigung der vier ethnischen Milieus am Beispiel ausgewählter deutscher, lettischer, russischer und jüdischer Persönlichkeiten der Stadt an. Rasche Industrialisierung im Maschinenbau, der chemischen Industrie und der Textilindustrie, ansteigende Migrationsströme vor allem lettischer Einwanderer aus dem ländlichem Umland und eine mit Westeuropa vergleichbare Alphabetisierungsrate machen Riga in vielerlei Hinsicht zu einem besonderen Fall sozio-ökonomischer Dynamik innerhalb des Zarenreiches. Auch das ethnische Hegemoniegefüge verschob sich zusehends: Blieb der prozentuale Anteil von Russen und Juden relativ stabil, so machten Deutsche 1867 noch rund 43 Prozent und Letten nur 24 Prozent der Stadtbevölkerung von nahezu 103.000 aus, während von der 1913 auf über 507.000 angestiegenen Bevölkerung nur noch 16 Prozent Deutsche und bereits 40 Prozent Letten waren.
Ständische Unterscheidungen des öffentlichen und privaten Umgangs wurden seit den 1860er-Jahren durch ethnische Denkfiguren ersetzt. Nicht mehr Bauer oder Bürger, sondern Russe und Lette bildeten die Bezugsgrößen, die sich vornehmlich gegen die dominierende deutschbaltische Oberschicht richtete, so von Hirschhausen. Der Abschluss der Bauernbefreiung in den 1860er-Jahren, die Einführung der Gewerbefreiheit 1866, die Einführung der russischen Städteordnung 1877 und des Russischen als Amtssprache 1885, die Justizreform und die Auflösung des städtischen Rats 1889 setzte die ständisch-patriarchalische Traditionen des deutschen Milieus zunehmend sowohl von russischer als auch von lettischer Seite unter Druck. Der Anstieg der industriellen Arbeiterschaft und die Vergrößerung des lettischen Anteils in allen Berufsgruppen veränderte keineswegs die deutsche Dominanz in der Vermögensschichtung. Klassenschichtung ging daher einher mit ethnischer Milieubildung und eröffnete aus ,,Legitimitätsdruck" den Weg zu einer umsichtigen kommunalen Sozialpolitik, der sich schließlich erfolgreich die Bürgermeister, wie beispielsweise der deutsch-englische Industrielle George Armitstead, verschrieben.
Inwieweit ethnische Ausdifferenzierung auf die Gestaltung kommunaler Politik und die Wahlkämpfe von 1878, 1901 und 1913 wirkte, wird im dritten Kapitel analysiert. Wie von Hirschhausen zeigt, stellte die vorsichtige Erweiterung des Wahlrechts 1877 die politische Partizipation in Riga keineswegs auf eine breitere Grundlage. Das neue Dreiklassenwahlrecht ließ im Schnitt nur zwischen ein und 3,2 Prozent der Stadtbevölkerung an die Wahlurnen. Jedoch zeichnete sich in allen Wahlkämpfen eine neuartige Mobilisierung der städtischen Gesellschaft ab, die vor allem durch einen hohen agitatorischen Wahlkampf, politische Konkurrenz zwischen Deutschen und lettisch-russischen Allianzen und schließlich die Politisierung der lettischen Arbeiterschaft durch die 1904 erfolgte Gründung der ,,Sozialdemokratischen Arbeiterpartei" gekennzeichnet war.
Der vierte Abschnitt ist der Selbstmobilisierung innerhalb eines dichten Assoziationswesens mit fast 700 Vereinen gewidmet, um die ,,zivilgesellschaftliche" Auswirkung ethnischer Vergemeinschaftung auszuloten. Demnach wurde in einem vielfältigen Vereinswesen der Stadt politische Partizipation jenseits des Staates eingeübt. Andererseits organisierte sich eben auch in den jeweiligen deutschen, lettischen, russischen und jüdischen Vereinen zunehmend die Pflege kultureller Eigenständigkeit. Es ist ein großer Verdienst von Hirschhausens, am Beispiel Riga erneut die Aufmerksamkeit auf die Ambivalenz des Begriffs ,,Zivilgesellschaft" gelenkt zu haben. Historische Empirie und theoretischer Anspruch von ,,Zivilgesellschaft" stehen zuweilen unvermittelt gegenüber, wenn gesellschaftliche Selbstorganisation, Gemeinwohlorientierung, Partizipation und Öffentlichkeit bedauerlicherweise auch mit ethnisch bedingtem Eigennutz, Konkurrenz und Abgrenzung einhergehen und eben nicht in der anspruchsvollen Eigenlogik friedfertiger Zukunftsutopien aufgehen.
Abschließend zeigt von Hirschhausen die ,,Segmentierung der kulturellen Praxis" am Beispiel der Russifizierungsmaßnahmen im schulischen und religiösen Alltag, der Ausrichtung der 700-Jahr-Feier der Stadt 1901, der Errichtung des Denkmals für Peter den Großen 1910 und einer diskursgeschichtlichen Einordnung deutscher und lettischer ,,Raumordnungen." Gerade am letzten Beispiel wird deutlich, wie sehr sich anhand von Begrifflichkeiten verschiedene ,,mental maps" herausbildeten, so die Autorin, und wie sehr sich darin das unterschiedliche Bedürfnis nach äußerer Abgrenzung und innerer Integration ausdrückte. Zwischen 1850 und 1914 entwickelten die Deutschen in Livland, Estland und Kurland durch die Selbstbezeichnung ,,Balten" eine verstärkte definitorische Gemeinsamkeit, während eine seit 1870 aufkommende und durch die Russifizierung aufgehaltene lettische Nationalbewegung auf eine klarer ethnisch definierte territoriale Umgrenzung von ,,Latvija" drängte. Mit anderen Worten: aufgrund gegenseitiger Hegemoniebestrebungen redeten Deutsche und Letten auch begrifflich aneinander vorbei, wenn es um die ,,Vermessung" territorialer Identität ging.
Die Studie von Ulrike von Hirschhausen erweitert mit einer hervorragenden Synthese von Sozial-, Politik- und Kulturgeschichte den Forschungsstand über das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Deutschen, Letten, Russen und Juden im baltischen Raum und ist daher hochwillkommen. Will man dem Zerfall zivilgesellschaftlicher Selbstverwaltung und multiethnischer Gleichzeitigkeit auf den Grund gehen, so bietet sich der traditionelle zeitliche Schlusspunkt um 1914 jedoch gerade im Hinblick auf Riga nicht an. Man hätte sich gewünscht, dass die Autorin die Freisetzung gesellschaftlicher Gewalt im Verlauf des Ersten Weltkriegs bis zur erklärten Unabhängigkeit Lettlands 1918 und den Kämpfen zwischen deutschen Freikorps, russischen ,,Weißen" und lettischen Truppen im Herbst 1919 genauer weiterverfolgt hätte, als es am Schluss skizzenhaft angerissen wird. Die Revolution von 1905 deutete hier bereits vieles an, was an spannungsreicherb Politisierung zwischen Deutschen, Letten und Russen ab 1914 verstärkt aufbrach. Denn von Hirschhausen hält fest, dass sich Letten und Deutsche bereits seit 1905 politisch ,,unversöhnlich gegenüberstanden" und ab 1914 deutsches Feindbild und russischer Patriotismus auch militärisch das lettische Selbstverständnis prägten.
Mit der deutschen Besetzung 1915 flüchteten 750.000 Letten ins Innere des Reiches, und auch das nahe der Frontlinie gelegene Riga verlor nahezu die Hälfte der Stadtbevölkerung. Angesichts einer solch gescheiterten, gewaltlosen Regelung von ethnischen Konflikten im Zuge eines auch das jeweilige Nationenverständnis ,,totalisierenden" Krieges werden wirksame Alternativen zur Ausdifferenzierung ethnischer Zugehörigkeit in Riga und der Herausbildung eines souveränen lettischen Staates bei von Hirschhausen nicht eindeutig benannt. Vielleicht erreicht aber gerade hier die Interpretationskraft des Historikers bestimmte Grenzen. Insofern stellt die vorliegende Publikation aber eine beeindruckend gehaltreiche Studie dar, die zur eigenen Urteilsbildung anregt.
Björn Hofmeister, Georgetown/Washington D.C.