ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Bettina Joergens/Christian Reinicke (Hrsg.), Archive, Familienforschung und Geschichtswissenschaft. Annäherungen und Aufgaben (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Bd. 7), Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2006, 291 S., 24 Abb., kart., 24,95 €.

Oft werden sie von der professionellen Zunft milde belächelt oder gar als ,,Geschlechtskranke" abqualifiziert - die Familienforscher bzw. Genealogen. Belastet ist die Disziplin auch durch die im ,,Dritten Reich" erforderlichen ,,Ariernachweise", für die genealogische Recherchen erforderlich waren. Dass diese Herangehensweise an Geschichte und an Archive mehr ist als eine Beschäftigungstherapie und in ihrer Ertragsmöglichkeit für historische Forschungen nicht unterschätzt werden darf, zeigt der vorliegende Band.

Nordrhein-Westfalen ist das einzige Bundesland, in dem es Personenstandsarchive gibt, die seit dem 1. Januar 2004 in das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen integriert sind. Diese überliefern personenstandsrelevante Quellen, wie z.B. Zivilstandsregister, Kirchenbücher.

Aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des Personenstandsarchivs in Brühl und des 40. Geburtstages des Staats- und Personenstandsarchivs Detmold fanden im Jahr 2005 zwei Veranstaltungen statt, deren Beiträge in dem vorliegenden Band gedruckt worden sind. Ziel ist es, den Fokus auf diese beiden Einrichtungen zu lenken, die in der Vergangenheit eher weniger im Zentrum archivischer Fachdiskussion standen. Das mag angesichts der eingangs geschilderten Vorbehalte gegen Familienforschung nicht verwundern, doch sollte man dabei nicht vergessen, dass beide Archive vielfältige Forschungsinteressen bedienen und intensiv genutzt werden. Deutlich wird das breite Interesse in der Gesellschaft an der einschlägigen Überlieferung zur Genealogie, das nicht ignoriert werden darf. Zunehmend beschäftigen sich auch Jüngere mit ihren Vorfahren. Nicht bedeutende Personen, sondern gerade die ,,einfachen" Menschen stehen hier im Zentrum des Interesses, das sich primär auf den Alltag richtet. Zugleich zeigt diese Entwicklung, wie auch die der Lokal- und Regionalgeschichte, das wachsende Bedürfnis Vieler, sich in einer globalisierten und immer komplexer werdenden Welt zu orientieren und Identität zu finden. Von daher ist Familienforschung nicht nur ein Zeitvertreib, sondern ein berechtigtes und ernstzunehmendes Anliegen.

Das informative Werk, das hier besprochen wird, gliedert sich in vier Teile: Archive und Öffentlichkeit, Personenstandsquellen in Archiven, Archivalien von Morgen und geschichtswissenschaftliche Perspektiven. Letzteres ist der umfangreichste Aspekt, der hier behandelt wird. Vorgestellt wird das Verhältnis von Familienforschung und Archiven sowie die Geschichte der beiden Personenstandsarchive. Hilfreich für alle Interessierten sind die Ausführungen zu den Personenstandsquellen in staatlichen, evangelischen und katholischen Archiven. International besonders gefragt sind die Quellen zur Auswanderung im Hamburger Staatsarchiv, darunter die Passagierlisten der Auswandererschiffe, die in dem groß angelegten Projekt ,,Link To Your Roots" (URL: http://www.linktoyourroots.com [9.5.2007]) digitalisiert und im Internet angeboten werden. Eine derartige Online-Recherchemöglichkeit ist zukunftsweisend. Vertiefende Einblicke geben die Beiträge zur Novellierung des Personenstandsgesetzes, die für die Geschichtswissenschaft und die Archive von großer Bedeutung ist, sowie die Führung von Personenstandsbüchern im Standesamt.

Neun Beiträge zeigen konkret an regionalen Beispielen aus Nordrhein-Westfalen auf, welchen Nutzen personengeschichtliche Quellen für die historische Forschung haben. Historische Demografie, familiäre und außerfamiliäre Netzwerke, Arbeitsmigration, Auswanderung Flucht und Vertreibung sind die Stichworte der instruktiven Texte, denen man methodische Anregungen für die Auswertung und Interpretation der Personenstandsquellen entnehmen kann. Nützlich für die praktische Arbeit ist der abschließende Beitrag über Genealogie im Internet und genealogische Datenbanken.

Es ist dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen und den Herausgebenden zu danken, dass sie einen anregenden und differenzierten Band vorgelegt haben, der nicht nur die beiden Personenstandsarchive ins rechte Licht rückt, sondern auch die Bedeutung der Familienforschung für die Geschichtswissenschaft nachdrücklich herausarbeitet. Gerade der Ansatz, Standesbeamte, Archivare und Benutzer zusammenzubringen, ist ein wegweisender Schritt zur Verständigung und hilft, Vorurteile abzubauen und Chancen der Kooperation zu nutzen. Zugleich wird anschaulich verdeutlicht, welcher Erkenntniswert in personengeschichtlichen Quellen steckt.

Rainer Hering, Schleswig


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