ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hanna Papanek, Elly und Alexander. Revolution, Rotes Berlin, Flucht, Exil - eine sozialistische Familiengeschichte. Mit einem Vorwort von Peter Lösche. Übersetzt von Joachim Helfer und Hannah C. Wettig, Vorwärts-Buch Verlagsgesellschaft, Berlin 2006, 580 S., 40 s/w-Abb., brosch., 29,80 €.

,,Bis heute, mehr als 60 Jahre nachdem ich in meinem dritten erzwungenen Exil angekommen bin und mehr als ein Jahrzehnt nach meiner letzten Reise an einen meiner vielen gewählten Exilorte, begreife ich mich als ein Kind des Exils." (Hanna Papanek 2006, S. 290, Hervorhebung H.P.) Die Autorin Hanna Papanek geborene Kaiser, Jahrgang 1927, floh als Siebenjährige mit der nicht-jüdischen Mutter Elly aus Berlin zunächst nach Prag, wo sie vier Jahre zusammen mit ihrem Vater Alexander Stein lebten, dann nach Paris 1938 und schließlich wieder auf der Flucht vor dem Zugriff des NS-Staates - nach einem Zwischenaufenthalt im Kinderheim Château Montintin - im Herbst 1940 über die Pyrenäen nach Lissabon und mit dem Schiff nach New York. Dass diese Erfahrungen prägend für ein Kind sind, versteht sich von selbst, aber dass sie als ,,großes Abenteuer" beschrieben werden, ist besonderen Konstellationen zu verdanken.

In über zehnjähriger Recherche hat Hanna Papanek durch die Aufarbeitung der familiären Nachlässe und von Archivbeständen, durch das Entdecken und Aufsuchen von Familienmitgliedern und Orten und aus eigenem Erleben und Erinnern eine umfangreiche Materialsammlung zusammengetragen und daraus die Familiengeschichte ,,In Search of Exile: The Participatory History of a Political Family 1880-2000" verfasst, so der englische Originaltitel des Manuskripts, das bisher leider nur auf Deutsch - in einer schönen Übersetzung - verlegt worden ist.

Eine wichtige Voraussetzung für diese Arbeit ist die Auseinandersetzung der soziologisch und anthropologisch versierten Autorin mit den verschiedenen Quellen und den eigenen Erinnerungen, die zur Entwicklung einer eigenen Methode führte: ,,Meine Methode der Teilnehmenden Geschichtsschreibung erwächst also aus zwei einander entgegengesetzten Impulsen, mit deren Widerspruch ich bei der Arbeit von Anfang an zu kämpfen hatte: Geschichte einerseits mit dem Detailreichtum eines Romanciers schreiben zu wollen, dabei aber andererseits dennoch die Wahrheit zu erzählen, oder vielmehr die vielen Wahrheiten der in Dokumenten, in Tagebüchern, in Briefen und auf Fotografien festgehaltenen Ereignisse, ohne sie als Dichtung, und mithin erfunden erscheinen zu lassen." (S. 35)

Entstanden ist eine ,,erweiterte Autobiografie" (S. 33), wie Hanna Papanek vielleicht etwas untertreibend schreibt. Tatsächlich sind viele Erzählstränge entwickelt worden, denn mit den beiden Protagonisten Elly und Alexander sind Einblicke in die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, insbesondere in die gesellschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse und Entwicklungen in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung und in der jüdischen Bevölkerung verbunden. Darauf zielt auch das Vorwort des Politikwissenschaftlers Peter Lösche ab, dessen Eltern mit der Kaiser-Familie befreundet waren. Insbesondere mit seinen Ausführungen zur ,,Sozialdemokratischen Solidargemeinschaft" steckt er den historischen Rahmen ab, in dem sich diese Familiengeschichte bewegt.

Elly Kaiser war Sekretärin und Archivarin der SPD-Fraktion im Reichstag und stammte aus einer klassenbewussten Familie mit starkem Zusammenhalt, der auch über das Exil hinaus reichte - das stellt Hanna Papanek in den beiden ersten Kapiteln ,,Weimar-Baby" und ,,Rotes Berlin, Steinernes Prag" dar. Sie wurde als ,,uneheliches" Kind geboren, was ihr erstmals als Problem vermittelt wurde, als es um Erfüllung moralischer Normen für das Einreisevisum in die USA ging und die Mutter kurzerhand einen verstorbenen Ehemann erfand und die Papiere entsprechend fälschte (S. 155ff.). Ihre Tante Fanny Hüllenhagen versteckte in ihrer kleinen Wohnung im Wedding eine jüdische Frau und gehört heute zu den ,,Gerechten der Völker", die in Yad Vashem geehrt werden, was im 15. Kapitel im Kontext der Familiengeschichte entfaltet wird.

Alexander Stein aus der jüdischen Rubinstein-Familie aus Wolmar und Riga flüchtete als Menschewik vor zaristischer Verfolgung bereits 1906 über die Grenze nach Deutschland, ging zunächst nach Zürich, dann nach Leipzig und lebte ab 1907 in Berlin, engagierte sich als Schriftsteller und Journalist in der deutschen Sozialdemokratie, war ,,stets ein Brückenbauer" (S. 346) und ab 1925 Bildungssekretär der Partei, blieb jedoch immer ,,in der zweiten Reihe" hinter der Prominenz der internationalen Arbeiterbewegung, was in dem 12. Kapitel, ,,Wie er wurde, was er war", dargestellt wird. Auch sein Lebensweg sowie die Geschichte seiner Familie in Zeiten des Bolschewismus und der Judenverfolgung - bis auf einen Cousin Hanna Papaneks, der sich retten konnte, wurde die ganze in Riga verbliebene Familie Ende November/Anfang Dezember 1941 von Deutschen und Letten ermordet - wurde u.a. mithilfe der heute in Riga und Paris lebenden Verwandten rekonstruiert (11. Kapitel).

Im Mittelpunkt des Buches stehen die erst im Kontext des Schreibens geführten Auseinandersetzungen mit den Eltern, die lebensgeschichtlich prägende und identitätsbildende Exilerfahrung und die Aufarbeitung der Rettungsaktionen, der gelungenen und der gescheiterten (3.-9. Kapitel). Bereits durch das politische Engagement der Eltern geprägt, schloss sich die damals Zwölfjährige in Paris der ,,Gruppe Freundschaft" an, eine von österreichischen Exilanten gegründete Jugendgruppe der ,,Roten Falken". Der Sommer 1939 in einer Jugendherberge in Plessis Robinson schweißte den starken emotionalen Zusammenhalt der Gruppe, die danach in die OSE-Kinderheime ging. (1) In diesen Kinderheimen, die von dem in die Wiener Schulreform involvierten Pädagogen Ernst Papanek geleitet wurden, fanden über tausend exilierte Kinder und Jugendliche Zuflucht und wurden nach reformpädagogischen Prinzipien erzogen, was für Hanna Papaneks politische Sozialisation lebenslang bestimmend geworden ist: ,,Gruppenmitgliedschaft, Gruppensolidarität, Freundschaft innerhalb von Gruppen und schließlich der Verlust von Freundinnen und Freunden stehen aus gutem Grund im Mittelpunkt meiner Erinnerungen." (S. 291)

Kurz vor dem Fall von Paris wurden die Kinder und Jugendlichen in den Süden Frankreichs, in die unbesetzte Zone, gebracht, jedoch die Kollaboration der Vichy-Regierung, insbesondere der Art. 19 des Waffenstillstandsabkommens, der die ,,Auslieferung auf Verlangen" vorsah, ließ Frankreich für deutsche und österreichische Flüchtlinge zur Falle werden. Wer auf den deutschen Fahndungslisten stand, im Kampf um die Listenplätze für die Erteilung von Visen unterlag und keine ausländische Hilfe erhielt (siehe 6. und 7. Kapitel), nicht illegal die Grenze nach Spanien oder in die Schweiz überqueren konnte oder in einem Versteck geschützt wurde, war in größter Gefahr, interniert und deportiert zu werden. Hanna Papanek trauert um ,,Die Kinder, die wir zurückließen" (S. 223ff.) und setzt ihren beiden Freundinnen Dorli Loebl und Adele Kurzweil ein Denkmal (8. und 9. Kapitel). Dabei untersucht sie sehr genau die Bedingungen und Voraussetzungen, auch die Zufälle und getroffenen Entscheidungen, die zur Rettung bzw. zum Untergang führten, und plädiert dafür, die Möglichkeiten des einzelnen Menschen zu sehen und ihn nicht von vornherein als Opfer zu stigmatisieren, wie es z.B. durch die Inszenierung der Ausstellung im Holocaust Memorial Museum in Washington vermittelt wird (S. 19ff., S. 181), denn: ,,Gerade die Achtung vor den Toten verlangt es, darauf hinzuweisen, dass sie, innerhalb der von den Verfolgern bestimmten und rasch veränderlichen Grenzen, als Lebende gewisse Handlungsspielräume hatten, zwischen Alternativen wählen konnten, noch nicht so völlig hilflos waren, wie sie es in den Viehwagen zur Gaskammer werden sollten; dass sie agency üben konnten." (S. 254, Hervorhebung H.P.) (2)

Da der Vater anhand eines alten Dokumentes seine angeblich russische Staatsbürgerschaft geltend machen konnte (S. 364ff.), war ihm, nachdem er auf der lebensrettenden Liste des Jewish Labor Committees stand, eine legale Ausreise möglich, die er mit seiner ersten Frau, von der er nicht geschieden war, und ältesten Tochter antrat. Zu dem Zeitpunkt war unklar, ob auch Elly und Hanna Kaiser die Flucht gelingen könnte. Gerade dieses 5. Kapitel macht die Dramatik eindringlich deutlich und auch den Mut der damals 13-Jährigen, die anstelle der schwer erkrankten Mutter in Marseille die notwendigen Wege für die alles entscheidenden Papiere für die Weiterreise nach der Überschreitung der grünen Grenze im Gebirge erledigte. In Lissabon kam es dann zu der erhofften Familienzusammenführung und Verschiffung.

Im letzten Kapitel und im Epilog beschreibt Hanna Papanek die ,,Traurigkeit des Exils" für ihre Mutter und den Vater, die gern nach Deutschland zurückgekehrt wären und sehnsüchtig auf das Kriegsende warteten. Die Vereinsamung, der fehlende politische Zusammenhalt und der ,,Druck der Amerikanisierung" lastete sehr auf der Familie: ,,In keinem unserer früheren Exile war eine derart tief greifende Angleichung von uns erwartet worden, und wir hatten uns auch nie freiwillig zu ihr entschlossen. Im Ergebnis lebten wir in Amerika der Jahrhundertmitte nicht als Einwanderer sondern als Exilanten." (S. 431). Der Vater, ohne Verdienstmöglichkeit und enttäuscht, weil Hoffnungen auf eine Forschungsförderung nicht erfüllt wurden, lebte krank, verbittert und depressiv nur bis zum Herbst 1948, die Mutter verdiente den Lebensunterhalt in freudloser Arbeit in Aushilfsjobs und dann als Sekretärin; sie starb Dezember 1961.

Nach Beendigung der Schule und der Eheschließung mit Gustav Papanek, dem Jugendfreund aus der ,,Rote Falken"-Gruppe in Paris, konnte ein Studium u.a. an der Harvard University deshalb finanziert werden, weil der Einsatz als Soldat in der US-Army - Gustav Papanek war in Deutschland - mit einer staatlichen Unterstützung für seine Ausbildung belohnt wurde. Die McCarthy-Ära veranlasste dann die Wahlexile in süd- und südostasiatischen Ländern, u.a. in Pakistan, Indonesien und Indien, und damit auch die Promotion über eine islamische Sekte und anschließend Forschungsprojekte und die Lehrtätigkeit an amerikanischen und indonesischen Universitäten im Bereich der Entwicklungs- und Frauenpolitik. Die Frage ihrer indischen Kolleginnen, die über Frauenlebensgeschichten arbeiteten, nach ihrer Geschichte war impulsgebend für das vorliegende Buch (S. 308f.), traf aber auch genau auf ihr wissenschaftliches Selbstverständnis: ,,Ich suche und finde in jeder Theorie die Biografie: die Spuren der persönlichen Erfahrung dessen, der sie aufstellt oder vertritt; des nie auszuschaltenden Einflusses des Beobachters auf die Beobachtung. Worum es mir geht ist, Sprach- und Kulturschranken in der Wahrnehmung und im Denken der Menschen zugunsten eines globaleren Blickwinkels zu überwinden." (S. 291).

Zwei kleine Kritikpunkte sollen genannt werden, die allerdings nicht der Autorin, sondern dem Verlag anzulasten sind: Erstens gehören Quellen-, Literatur- und Abkürzungsverzeichnisse, die Auflistung der benutzten Archive und das Personen- und Sachregister nicht in den Anhang, sondern sind essentiell für ein wissenschaftliches Werk, und zweitens ist bei der Endkorrektur wohl nur ein flüchtiger Blick auf die Silbentrennung geworfen worden. Das schmälert jedoch den sehr positiven Gesamteindruck keinesfalls - das Buch ist mit den vielen Fotografien und Dokumenten auch optisch ansprechend gestaltet worden. Abschließend ist zu sagen, dass die im Anhang befindlichen Stammbäume und die Kurzbiografien hilfreich für die Lektüre sind.

Das Buch von Hanna Papanek setzt durch ihren besonderen methodischen und auf Familiennetze bezogenen Ansatz neue Maßstäbe in der Biografie- und Exilforschung und ist in der gelungenen Mischung von quellenorientierter Aufarbeitung und persönlichen Erinnerungen, von historischer Erzählung und wissenschaftlicher Reflexion, wie von Peter Lösche zutreffend beschrieben, ,,ein stilistischer, literarischer und intellektueller Genuss" (S. 15).

Inge Hansen-Schaberg, Rotenburg

Fußnoten:


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