Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, Carl Hanser-Verlag, München 2007, 416 S., geb., 25,90 €.
Der Orientalist und politische Schriftsteller Paul de Lagarde (1827-1891) ist heute nur noch als Chiffre für unheilvolle Tendenzen im Deutschen Kaiserreich präsent. Meist wird er zusammen mit dem ,,Rembrandtdeutschen" Julius Langbehn genannt und für eine nationalistische und antisemitische Aufladung der politischen Kultur verantwortlich gemacht. Warum er aber nicht nur von zahlreichen Verlagen nachgedruckt und in vielen Auflagen in der Weimarer Republik verkauft wurde, warum er nicht nur von Adolf Hitler und Alfred Rosenberg, sondern bei aller Kritik auch von Liberalen wie Ernst Troeltsch und Theodor Heuss bewundert wurde, blieb bisher unklar.
Licht in das Dunkel des Lagarde'schen Erfolges hat nun Ulrich Sieg gebracht. Sieg streicht zunächst die ungeheure Sprachbegabung Largardes heraus, die Voraussetzung dafür war, dass er sich zu einer Koryphäe auf dem Gebiert der Orientalistik entwickeln konnte. Lagarde verfolgte als Göttinger Professor das Mammutprojekt einer kritischen Edition der Septuaginta, also der altgriechischen Übersetzung des Alten Testamentes. Im Zeitalter der geisteswissenschaftlichen Großprojekte, man denke an den von Lagarde gehassten Theodor Mommsen, war das kein ganz ungewöhnliches Vorhaben. Allerdings musste es schon allein deshalb scheitern, weil Lagarde trotz zahlreicher auch internationaler Kontakte zur wissenschaftlichen Arbeitsteilung nicht fähig und willens war. Zudem entwickelte sich Lagarde zu einem religiösen und politischen Schriftsteller, was ihn in zahlreiche Kontroversen verwickelte und einen Teil seiner immensen Arbeitskraft absorbierte.
Lagarde suchte nach einer neuen, von ihm nur schemenhaft skizzierten nationalen Religion, welche die textkritisch dekonstruierte Bibelgläubigkeit des Protestantismus hinter sich ließ, die aber an Jesus als letztlich einzigem echten Christen, dessen Lehre von Paulus verfälscht worden sei, als zentralem Bezugspunkt festhielt. Immer wieder wurde von Lagardes Bewunderern sein tiefer religiöser Ernst inmitten einer ja auch von vielen anderen Zeitgenossen diagnostizierten Oberflächlichkeit der Bildung und Kultur des Kaiserreiches gerühmt. Daneben stieß seine nationalistische Kritik von Staat, Bildungswesen und Kirchen, etwa in seinen ,,Deutschen Schriften", in einer Zeit verbreiteter Orientierungslosigkeit auf einen breiten Resonanzboden. Die Verquickung von nationalen und religiösen Inhalten mit der wissenschaftlichen Autorität eines auf positivistischen Boden stehenden Gelehrten, das war wohl das Erfolgsgeheimnis von Lagarde. Grundiert war das Ganze durch einen teilweise rabiaten Antisemitismus, der allerdings, obgleich bisweilen in einer biologistischen Sprache artikuliert, doch eher den traditionellen religiösen Antisemitismus spiegelte, was später auch die Nationalsozialisten bemerkten. Insofern erscheint der Untertitel des vorliegenden Buches, ,,Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus" durch den Inhalt der Biografie nicht gerechtfertigt (auch der Obertitel ,,Deutschlands Prophet" ist deutlich überzogen). Aufschlussreich ist freilich, dass Sieg nicht nur Rosenbergs enthusiastische und verfälschende Lagarde-Rezeption beschreibt, sondern auch Hitlers Lektürespuren anhand von dessen Handexemplar der deutschen Schriften nachgeht. Besonders Lagardes Ausfälle gegen Katholizismus und Liberalismus scheinen auf Hitlers Zustimmung gestoßen zu sein.
Obwohl Ulrich Sieg mit historisierendem Einfühlungsvermögen dem Objekt seiner Beschreibung gegenübertritt, spürt man öfter das deutliche Kopfschütteln, das den Autor bei der Erforschung Lagardes befallen haben muss. Lagarde war ein äußerst schwieriger, mitunter gehässiger und verletzender Polemiker, der keine Indiskretionen und Verleumdungen von Kollegen und Gegnern scheute. Das preußische Kultusministerium brachte ihm wegen des geschätzten Septuaginta-Projektes nicht nur erstaunlichen Langmut entgegen, sondern ließ ihm auch eine für damalige Zeiten ungewöhnliche Förderung zuteil werden. Lagarde dankte es mit üblen Beschimpfungen und Schuldzuweisungen für das Scheitern seiner Septuaginta-Edition. Einziger Lichtblick in seinem Leben nach einer schlimmen Kindheit scheint Lagardes Ehe gewesen zu sein, die er mit seiner überaus loyalen Ehefrau Anna führte.
Sieg bietet über Lagardes Biografie hinaus einen spannend zu lesenden Einblick in die Wissenschaftswelt des 19. Jahrhunderts. Gerade im hier fassbar werdenden ernormen symbolischen Kapital, über das Ordinarien im Kaiserreich verfügten, scheint ein Schlüssel der politischen Wirksamkeit Lagardes zu liegen. Leider wird Siegs umfangreiche archivalische Forschung durch das Fehlen eines Quellen- und Literaturverzeichnisses erst auf den zweiten oder dritten Blick bei der genauen Musterung des Anmerkungsteils deutlich. Das soll das Lob für eine nicht nur aufschlussreiche, sondern auch äußerst kurzweilig zu lesende Biografie aber nicht schmälern.
Peter Hoeres, Münster