ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Annegret Schüle/Thomas Ahbe/Rainer Gries (Hrsg.), Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2006, 612 S., kart., 32,00 €.

Es war sicherlich Zufall, dass 2002 eine Tagung zum Thema ,,Geschichte der Generationen in der DDR" mit dem Erscheinungsjahr von Jana Hensels Bestsellers ,,Zonenkinder" zusammenfiel. Beides steht aber für das zeitgenössische Interesse am Thema, das seinen Niederschlag in zahllosen autobiografischen, feuilletonistischen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Wortmeldungen im Osten wie im Westen des Landes findet. Man denke nur an die Auseinandersetzung mit dem Thema 1968, das schon länger Tradition hat. Als Zeithistoriker kommt man diesem wie an anderen echten oder scheinbaren Generationendiskursen nicht vorbei. Der vorliegende Ergebnisband zur erwähnten Tagung gibt nun Gelegenheit, den Wert dieser Ansätze für die DDR-Forschung zu überprüfen.

Gleich zu Anfang wird in dem Band unterstrichen, dass die wissenschaftliche Seite der Diskussion nach wie vor in den konzeptionellen Vorarbeiten des Soziologen Karl Mannheim und des Kulturhistorikers Wilhelm Dilthey Halt findet. Ihre Kriterien und Argumente markieren den Unterschied zwischen der Verwendung des Begriffs ,,Generation" im Alltagsgebrauch und seiner Beförderung zu einem wissenschaftlichen Analyseinstrument. Einführungen in die Konzepte Diltheys und v.a. Mannheims finden sich im vorliegenden Band gleich in drei Texten; zum einen beim Erziehungswissenschaftler Ulrich Herrmann, beim Jenaer Zeithistoriker Lutz Niethammer und bei dessen Mitarbeitern Ulrike Boldt und Rüdiger Stutz. Darüber hinaus weist das sehr umfangreiche Buch weitere 18 Einzelbeiträge auf, die im Kern vorliegende und publizierte Forschungsprojekte unterschiedlicher Disziplinen zu Generationenphänomenen in der DDR vorstellen.

Lassen Sie uns mit dem längeren, übergreifend angelegten Beitrag der beiden Herausgeber Thomas Ahbe und Rainer Gries am Schluss des Bandes beginnen: Die knapp 100 Seiten umfassenden methodischen und theoretischen Überlegungen von Ahbe und Gries zu einer ,,Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte" haben eine ausführlichere Würdigung verdient. Darin versuchen die Autoren Antworten auf die Frage zu geben, welche ,,neue Einsichten" der Generationen-Ansatz in die ,,innere Dynamik und Stabilität der DDR" hervorbringen könne und wie tragfähig er für Fragen nach Sinn, Motivation und Handlungslogiken der Menschen in dieser Gesellschaft sei. Spätestens hier sollte deutlich werden, dass hier ,,Generation" als ein Schlüsselkonzept im Spannungsfeld von Sozial- und Kulturgeschichte eingeführt wird. Dies ist für die DDR-Forschung besonders spannend, denn hier traf in den letzten 15 Jahren die neuere Kulturgeschichte viel unmittelbarer auf eine nachholende Sozialgeschichtschreibung als dies beispielsweise für die Bundesrepublik gilt. Ahbe und Gries legen sechs ,,Generationenporträts" vor, mit denen sie die vorliegenden Begriffe und Ansätze zur generationalen Gliederung der DDR-Bevölkerung aufgreifen, die jeweilige Charakterisierung in den verschiedenen Entwicklungsphasen der DDR vertiefen, um schließlich zu prüfen, inwieweit hier - im Mannheim'schen Sinne - ein ,,Generationszusammenhang" oder doch eine ,,Generationseinheit" angenommen werden könne: Es sind dies die ,,Generation der misstrauischen Patriarchen" der Gründerväter der DDR, die ,,Aufbau-Generation" der Mitte 1920er- bis Mitte 1930er-Jahre Geborenen, die ,,funktionierenden Generation" der Mitte der 1930er- bis Ende der 1940er-Jahre, die ,,integrierte Generation" der in den 1950er-Jahren Geborenen, die ,,entgrenzte Generation" der während der 1960er-Jahre Geborenen bis Jahrgang 1972 sowie schließlich die Generation der ,,Wende-Kinder" der Geburtsjahrgänge 1973-1984.

Das Porträt der misstrauischen Patriarchen umschreibt sowohl die stalinistischen Anfangsjahre der DDR als auch die Folgejahrzehnte aus der psychischen Verfasstheit des relativ kleinen, eigentlich isolierten Machtzirkels, der sein Denken und Handeln von Kampf- und Konfrontationserfahrungen mit den politischen Gegnern und aus dem Misstrauen gegen potenzielle Verbündete ableitete. Die sich hieraus ergebende Bündnisunfähigkeit führte zur entwicklungshemmenden Blockade der DDR-Eliten. Einzig der Bund mit der Aufbau-Generation, die ab den 1950er- und 1960er-Jahren die große Masse der Funktionseliten stellte, trug zu einer gewissen Stabilität ihres Staates bei. Die Autoren betonen die kleine Zahl der zur Patriarchen-Generation Zugehörigen, sodass die Verwendung des Generationenbegriffs hier sehr zweifelhaft ist. War es nicht gerade ihre Unfähigkeit, mit anderen Milieus und Schichten der gleichen Geburtsjahrgänge zu kooperieren, gemeinsame Gesellschafts-, Sinn- und Zukunftsentwürfe zu entwickeln, die verhinderte, dass sich aus einem kleinen Machtzirkel so etwas wie ein Generationenzusammenhang oder gar eine Generationeneinheit entwickeln konnte? Wenige der Einzelbeiträge gehen näher auf diese Zeit ein. Interessant ist immerhin der Text von Georg Wagner-Kyora zur ,,alten Intelligenz" im Leunawerk, der zeigt, wie lange sich die Etablierung einer neuen Funktionselite hinzog und wie schwierig die Zusammenarbeit zwischen neuen und alten Eliten war. Dies galt besonders für die verstaatlichte Wirtschaft. In Institutionen, die von Grund auf neu aufgebaut wurden wie etwa die DDR-Staatssicherheit (Beitrag Jens Gieseke), war diese Etablierungsphase einfacher.

Die einzige, in der Forschung unbestrittene Generationeneinheit in der DDR bildete die Aufbau-Generation. In den Gruppen der Funktionseliten waren sie am stärksten und längsten vertreten (vgl. auch den Beitrag von Mary Fulbrook). Frühsozialisiert im Nationalsozialismus stiegen sie nach 1945 schnell im politischen Gefüge der sich formierenden Gesellschaft auf, erlebten die Goldenen Jahre der 1960er- und 1970er- Jahre in der Mitte ihres Lebens, die Systemlähmung in den 1980er-Jahren mit Blick auf ihren Ruhestand: ,,Der Takt dieser Generation befand sich mit dem Rhythmus der DDR in einem überraschenden Gleichklang." (S. 516) Ihnen folgte die als ,,funktionierende Generation" charakterisierte Gruppe, deren Profil aber unklar und verschwommen bleibt. In einem, von Bernd Lindner vorgestellten, anderen Abfolgemodell werden sie deshalb auch unter die Aufbau-Generation subsumiert. Die vierte, die ,,integrierte Generation", zeichnete sich weitgehend durch ihre komplette Sozialisation in der DDR aus. In Zusammenhang mit der ,,funktionierenden" und der ,,integrierten" Generation wird diskutiert, ob es in der DDR eine mit den West-68ern vergleichbare Generation gegeben habe, die ab Mitte der 1960er-Jahre die Jugendprotestkultur des Westens aufgriff bzw. in den 1980er-Jahren in der Systemopposition aktiv wurde. Hier finden sich aber letztlich nur sehr kleine, soziokulturelle Milieus, die eine klare Minderheit in ansonsten ,,unauffälligen" Generationenzusammenhängen darstellten.

Umstritten sind hingegen wieder die Charakteristika der beiden letzten Generationen: Kann die Gruppe der in den 1960er-Jahren Geborenen als ,,distanziert" (Lindner) oder eher als ,,entgrenzt" (Ahbe/Gries) bezeichnet werden? Damit verbunden ist die Frage, ob sie eher durch oppositionelle Latenz in der DDR oder durch ihre neuen Lebenschancen nach der Wende geprägt ist. Schließlich bleibt der Generationenzusammenhang der ,,Wende-Kinder" übrig, deren Schulzeit mit dem Ende der DDR zusammenfiel (die ,,89er", ,,Zonenkinder"): Kann ihr Leben nach 1989 v.a. durch den Wegfall aller Erziehungsinstitutionen (Schule, Familie etc.) als ,,unberaten" (Lindner) treffend beschrieben werden oder wurde ihre Neuorientierung doch durch innerfamiliäre Stützen abgefedert (Ahbe/Gries), sodass der neutralere Begriff ,,Wende-Kinder" angebracht erscheint? Bei beiden Generationen ist es jedenfalls schwierig, von ,,Generationeneinheiten" im engeren Sinn auszugehen. Eine Einheit von gemeinsamen Kommunikationsprozessen, Sinn- und Handlungszusammenhängen fehlt hier. Zu diesem Schluss kommen auch andere Autorinnen des Bandes wie Susanne Leinemann oder Tanja Bürgel.

Abschließend sei gesagt, dass die Inventur im vorliegenden Sammelband geglückt ist. Die Kategorie der Generation wurde - neben Klasse/Milieu, Gender, Ethnie - gleichberechtigt in der Gesellschaftsgeschichte etabliert. In vielen Fragen zur inneren Dynamik und Stabilität der DDR kann sie wichtige Antworten liefern. Hier sei aber gleichzeitig ausdrücklich vor monokausalen Ansätzen gewarnt. In der DDR waren es oft genug z.B. Milieu-Zugehörigkeiten, die mitentscheidend für Verhalten und Wertehaltung waren. Die Debatte um die Generationen der DDR ist letztlich noch nicht abgeschlossen, sondern wird hoffentlich von dem hier versammelten Material weiter angeschoben.

Armin Müller, Konstanz


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