ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hrsg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburger Edition, Hamburg 2005, 354 S., geb., 35,00 €.

Die Medien erfinden mit immer kürzerer Umschlagszeit immer neue Generationen - diese Kritik ist bekannt und gehört zum Ritual der Generationenforscher. Der vorliegende Band zeigt freilich, dass es nicht nur ,,die" Medien sind, die am Generationenboom mitwirken, sondern auch die Wissenschaften. Der begrifflichen Präzision kommt das freilich nicht zugute. Es ist keineswegs klar, was eine Generation ausmacht. Dass es sich zumindest um eine Alterskohorte handeln müsse, um zusammenhängende Geburtsjahrgänge, die eine gemeinsame Prägung in der Jugend erlebt haben oder im Nachhinein durch Fremd- oder Selbstzuschreibung eine gemeinsame Prägung und Erfahrung erkennen oder erfinden, mag man zwar mit der Karl Mannheim folgenden Literatur annehmen, in der Forschungspraxis wird aber nicht einmal diese Minimalvoraussetzung anerkannt. Unklar ist schon, ob denn nun die gemeinsame Prägung in der Jugendphase im engeren Sinn (,,Flakhelfer-Generation", ,,45er") oder die gemeinsame Handlung (,,1848er", ,,68er") eine Generation ausmacht.

Manche Autoren des Bandes nutzen den Begriff ganz konkret, fast umgangssprachlich, wenn sie vom Generationenvertrag und von Generationenkonflikten sprechen, meinen also schlichtweg die Beziehungen zwischen Älteren und Jüngeren oder zwischen Eltern und Kindern. Manchmal hat man zudem den Eindruck, dass die Faszination für ein neues Erklärungs-Passepartout - neben altbekannten wie Klasse oder Geschlecht - nun den Anlass bietet, alte Themen neu zu verpacken. Auch methodisch bleiben die Beiträge heterogen und nicht immer überzeugend. In welchem Maß man nachträglich erstellte individuelle Selbstzeugnisse als Ausdruck von Generationenerfahrungen nutzen darf, inwieweit aus reflektierten rückblickenden Aussagen zum Beispiel von Journalisten tatsächlich eine Generationenmentalität ablesbar ist, müsste weit kritischer diskutiert werden. Der multidisziplinäre Ansatz - neben historischen Aufsätzen finden sich Beiträge aus soziologischer, psychoanalytischer, literaturwissenschaftlicher und volkskundlicher Sicht, ist zwar anregend, verstärkt aber die begriffliche und methodische Vielfalt.

Man wünschte sich auch, dass gelegentlich der Blick über die eigene Kultur hinaus gewagt würde. Stattdessen handelt es sich weitgehend um eine Selbstbespiegelung deutscher Befindlichkeiten. Selbst ein volkskundlich-kulturwissenschaftlicher Beitrag verbleibt im deutschen Rahmen. Zwar wird eingangs betont, dass der Begriff oder die Konstruktion von Generationen ,,eng mit der Entstehung der europäischen Moderne verbunden" seien (S. 7). Aber konkret wird das lediglich in der behaupteten, jedoch nur vom Mitherausgeber in einem eigenen Beitrag ansatzweise begründeten Polarisierung eines vorindustriellen, auf Abstammung beruhenden, genealogischen Generationenverständnisses mit einem modernen konstruktivistischen Generationenbegriff, nach dem sich Generationen jeweils gegen die Vorgängergeneration formiert hätten. Allerdings verrät das wiederum ein recht begrenztes Verständnis vormoderner Kulturen. Denn auch die genealogische Deutung der Generationenabfolge ist eine gesellschaftliche Vereinbarung zur Regulierung von Generationenbeziehungen und -konflikten. Wenn in einem Beitrag über das ,,Geschlecht der Generationen" darauf verwiesen wird, dass der Selbstentwurf als junge Generation um 1930 ,,eine Ermächtigungsstrategie" darstellte, ,,die nicht nur darauf zielte, den politischen Einfluß älterer Männer, sondern auch den Einfluß von Frauen zu begrenzen" (S. 158), so liegen beispielsweise Parallelen zu vermeintlich außermodernen afrikanischen Altersklassensystemen und Generationskonzepten nahe. Allerdings kann man den Befund dann auch nicht mehr so ohne Weiteres, wie es in dem Beitrag geschieht, mit Detlev Peukert auf die Krisenhaftigkeit der Moderne beziehen. Kurz: Ein transkultureller Blick würde die Grundannahmen des Bandes in Frage stellen.

Damit ist freilich ein weiteres Problem angesprochen: Nach dem Willen der Herausgeber soll der ,,Blick auf den Konstruktionscharakter altersbedingter Vergemeinschaftungen gelenkt" werden (S. 9). Nun ist es schon ein Topos, dass alles erfunden und konstruiert ist: die Nation, das Geschlecht, die Tradition (auch die Klasse?), und dass man auch Generationen nicht als biologische Gegebenheiten verstehen kann, erscheint banal. Doch hätte ein transnationaler oder vergleichender Ansatz die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes bekannt gemacht mit Versuchen, angesichts der anthropologischen Konstante des Heranwachsens und Alterns sowie der sozialen Konstante der Auseinandersetzungen zwischen Altersgruppen um Macht und Ressourcen bessere Erklärungen für Dominanz, Beständigkeit oder auch Brüchigkeit von Identität zu finden als bloß den Verweis auf deren konstruktiven Charakter. Was denn nun eigentlich das Substrat von Generationen ausmacht, bleibt unklar. Und dass der Erklärungsanspruch des Generationenbegriffs sich auf die Aspekte ,,Identitätskonstruktion, Kollektivbezug, Erfahrungsgemeinschaft und Handlungsrelevanz" bezieht (S. 9), hilft wenig weiter, denn diese Aspekte (oder ,,Plastikbegriffe"?) haben gleichermaßen Erklärungsanspruch für die Erforschung jeder beliebigen Form von Vergemeinschaftung, ob Nation, Klasse, Geschlecht oder Taubenzüchterverein. Ein Blick über deutsche und europäische Grenzen würde jedenfalls verschiedenartige, sehr präzise und kulturell eingeübte Vorstellungen von der Gemeinsamkeit, Prägung und Aufgabe von Generationen in der Gesellschaft offenbaren und stärker danach fragen lassen, warum das Denken in Generationen immer wieder attraktiv ist und warum Generationen in unterschiedlichen Formen erscheinen. Nebenbei hätten die Autorinnen und Autoren auch eine gewisse selbstkritische Distanz zu ihrem eigenen Interesse an Generationen finden können.

Allerdings hat man den Eindruck, dass es in vielen Beiträgen des Bandes im Grunde nicht um Generationen geht, sondern um etwas anderes, nämlich um die deutsche Vergangenheitsbewältigung, und das erklärt auch die nationale Engführung. Generationen sind, so wie der Begriff hier genutzt wird, Teil des deutschen Vergangenheitsdiskurses, sie sind eine ,,Gedächtniskategorie" (S. 16). Daher rührt ihre Attraktivität für Medien und Wissenschaft gleichermaßen; der Generationenboom ist eben auch Teil des deutschen Erinnerungsgewerbes. So ist auch der multidisziplinäre und multiperspektivische Zugang des Bandes angelegt. Aber neben der transkulturellen wünschte man sich hier auch mehr historische Tiefenschärfe. Wenn etwa eine Psychoanalytikerin berichtet: ,,'Mein Vater hat mich nie umarmt', sagt die Tochter eines ,Kriegskindes'. Auf diese Weise wurden die Gewalterfahrungen den Kindern ,mitgeteilt' [...]" (S. 103), so lässt sich eine solch schlichte Schlussfolgerung nur mit Unkenntnis der Geschichte von Familie und Intimität erklären. Ganz abgesehen davon führt die Einbeziehung der Psychoanalyse nicht nur zu problematischen Verallgemeinerungen individueller Befunde, sondern auch zur inflationären Verwendung des Trauma-Begriffs, wenn von ,,mehreren traumatisierten Generationen" die Rede ist (S. 105). Wer so argumentiert, wird das Trauma geradezu zum Normalfall der (deutschen) Geschichte machen müssen (oder wollen?). Die alte Bundesrepublik mit ihrer Geschichte von Frieden und Wohlstand wäre dann die Ausnahme und die deutsche Vergangenheitsbewältigung sozusagen die Bewältigung des Normalfalles. Das klingt wenig überzeugend. In dieser Perspektive mag es ein weiterführender Ansatz sein, wenn das Generationenkonzept mit der Erfahrung von Beschleunigung und der nach W. G. Sebald benannten ,,Zeitheimat" in Beziehung gesetzt und als Versuch gedeutet wird, ,,die Hoffnung auf Kollektivitätserfahrung in einer Gesellschaft hoher Flexibilität und hektischer Dynamik" aufrechtzuerhalten (S. 179). Doch ist, anders als dabei suggeriert, die Erfindung von Generationen weniger Gegengewicht gegen die Beschleunigung des Wandels als vielmehr Ausdruck und Form des Wandels selbst. Daher ist die Erfindung immer neuer Generationen in den Medien durchaus konsequent.

Winfried Speitkamp, Gießen


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