Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Conan Fischer, The Ruhr Crisis 1923-1924, Oxford University Press, Oxford 2003, VIII + 312 S., geb., £ 66.
Der ,,Ruhrkampf" des Jahres 1923 gegen die französische und belgische Besatzung hat seit den 1980er-Jahren verstärkt die Aufmerksamkeit der Wissenschaft gefunden. Die Positionen der Regierungen auf deutscher und alliierter Seite sowie der großen Unternehmen und der Gewerkschaften und die Verhandlungen zwischen ihnen sind mittlerweile gut erforscht. Conan Fischer beabsichtigt keine Neuinterpretation des Konfliktes. Im Anschluss an jüngste Studien, die sich besonders kritisch mit der Politik des französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincaré auseinandersetzen, will er vielmehr eine Darstellung vorlegen, die der Alltagsgeschichte der Besatzung und des Widerstandes besondere Aufmerksamkeit widmet und deren bisher wenig gewürdigten Aspekten nachgeht. Dafür zieht er umfangreiche deutsche Quellenbestände heran, vor allem Akten der Regierungspräsidien und einzelner Unternehmen. Fischer gelingt eine faktenreiche, eindringliche und insgesamt überzeugende Studie.
Die Arbeit ist im Prinzip chronologisch aufgebaut und setzt in den Hauptkapiteln thematische Schwerpunkte. Eine bisweilen geradezu spannende Lektüre ist Fischers Schilderung der Ereignisse in den ersten Wochen der Ruhrbesetzung und des schnell von der Reichsregierung ausgerufenen passiven Widerstandes. Während die Unternehmer anfangs Mühe hatten, zu einer einheitlichen Linie zu finden, verlegte das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat, sozusagen die Steuerungszentrale der gesamten Kohlenproduktion, bei Nacht und Nebel seine Akten nach Hamburg und brachte so den Besatzern eine erste unerwartete Niederlage bei. Einen weiteren nicht vorhergesehenen Rückschlag erlebten sie durch die unzweideutige Weigerung der Gewerkschaften und der Bergleute überhaupt, mit ihnen zu kooperieren. Diese Ablehnungsfront, die sich trotz der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen an der Ruhr 1919 und 1920 bildete und in die Erfahrungen der Gewerkschaften in Frankreich und an der Saar mit der rechtsnationalen Regierung Poincarés einflossen, schloss sogar, wie Fischer unterstreicht, die meisten der im Ruhrgebiet noch verbliebenen etwa 50.000 polnischen Bergarbeiter mit ein. Nachdem die französischen Generäle weder durch Lockungen noch durch Drohungen Unternehmer und hohe Beamte zur Zusammenarbeit bewegen konnten und Mitte Januar 1923 in Mainz vor ein Kriegsgericht stellten (das sie freilich mit milden Strafen belegte), wurde die Rückkehr Fritz Thyssens und der anderen Angeklagten zu einem wahren Triumphzug, der die Breite und Geschlossenheit des passiven Widerstandes allen vor Augen führte. Fischer hebt hervor, dass gewaltsamer Widerstand dabei nur marginale Unterstützung fand, zumal die preußische Regierung hier von Beginn an eine unzweideutig ablehnende Position bezog. Als nach tödlichen Schüssen französischer Truppen auf protestierende Arbeiter bei Krupp Ende März Sabotageakte und Überfälle auf Besatzungssoldaten zunahmen, zögerten die preußischen Behörden nicht, auch mit Verhaftungen dagegen vorzugehen. Mit deutlich kritischem Unterton schildert Fischer, wie das französische Militär auf solche Gewaltakte mit einem breiten Spektrum von Repressionsmaßnahmen reagierte. Dazu gehörte es, prominente Geschäftsleute und Beamte als Geiseln in Nachtzügen mitfahren zu lassen, um Anschläge auf den Bahnverkehr zu verhindern, oder, unter Bruch des Völkerrechts, deutsche Beamte zu zwingen, bei der Entschärfung von Sprengsätzen anwesend zu sein. Trotz - oder gerade wegen - solcher Maßnahmen seien die Sympathien in der Bevölkerung für den gewaltsamen Widerstand nicht gewachsen, betont Fischer. Der standrechtlich erschossene Saboteur Albert Leo Schlageter, von der extremen Rechten (und zeitweise auch den Kommunisten) zum Vorkämpfer einer nationalen Erhebung gegen die Besatzungsmacht hochstilisiert, war gerade dies eben nicht. Im Übrigen seien viele Vorfälle, die von den Besatzungsstellen als Sabotageakte dargestellt wurden, in Wahrheit Unglücksfälle gewesen, die auf die Inkompetenz des von Franzosen und Belgiern eingestellten Eisenbahnpersonals zurückgingen.
Mit einer Vielfalt weiterer Maßnahmen versuchten die Besatzer, ihren Einfluss auf das Ruhrgebiet zu sichern, und trafen dabei auf den entschlossenen, auf lange Sicht aber zum Scheitern verurteilten Widerstand der Bevölkerung. Die Schilderung dieses alltäglichen Kleinkriegs ist der herausragende Teil der Studie. Zahlreiche höhere Beamte, die eine Zusammenarbeit mit den Besatzungsstellen verweigerten, wurden unter harschen Umständen ausgewiesen. Die verbleibenden, weniger hohe Ränge einnehmenden Beamten hielten dem Druck dann oft nicht mehr stand. Nach einer Reihe von bisweilen gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Besatzungstruppen wurde die preußische Schutzpolizei im Besatzungsgebiet aufgelöst und ebenfalls Opfer umfangreicher Ausweisungen. Hart getroffen wurden auch die kooperationsunwilligen Eisenbahner und ihre Familien; die Zahl der Ausgewiesenen lag hier schließlich bei 100.000. Die preußische Regierung hatte schließlich keine andere Wahl, so Fischer, als allen verbliebenen Staatsbediensteten ein beschränktes Maß an Kooperation mit den Besatzern zu erlauben, um ihren Einfluss auf das Ruhrgebiet nicht völlig einzubüßen. Auch im Konflikt um die Erhebung von Zöllen bei der Einfuhr von Lebensmitteln in das Ruhrgebiet musste die deutsche Seite schließlich nachgeben und die Zahlung von Abgaben auf lokaler Ebene gestatten, damit die Versorgung der Bevölkerung einigermaßen gewährleistet blieb. Die Beschlagnahme von Bargeld durch Besatzungstruppen bereitete zusätzliche Schwierigkeiten. Von Mangelernährung und Gesundheitsproblemen betroffen waren besonders viele Kinder. Ihre Not traf auf eine Welle von Hilfsbereitschaft im übrigen Deutschland. Fischer schätzt, dass etwa 300.000 von ihnen außerhalb des besetzten Gebiets für einige Wochen Aufnahme fanden und sich etwas erholen konnten.
Als sich in der Hyperinflation während des Sommers die Versorgungslage weiter verschlechterte und zu Lebensmittelunruhen führte, konnte die preußische Regierung die Aufstellung lokaler Hilfspolizeieinheiten durchsetzen. Sie mussten allerdings blaue Uniformen tragen (statt der grünen der Schutzpolizei) und ihre Angehörigen die Offiziere der Besatzungsarmeen grüßen, was die Kräfteverhältnisse zwischen beiden Seiten nun deutlich zum Ausdruck brachte. Wie Fischer zeigt, bröckelte seit Juni 1923 auch in der Bevölkerung der Widerstandswille ab, am deutlichsten erkennbar in der zunehmenden Zahl von deutschen Passagieren im Eisenbahnbetrieb unter Besatzungsverwaltung. Der Zermürbung und Erschöpfung auf deutscher Seite stand eine immer effizienter werdende Besatzung gegenüber, der es inzwischen gelungen war, die nach dem Einmarsch zunächst auf ein Viertel gefallene Kohlenförderung wieder in Gang zu bringen. Zur Aufgabe des passiven Widerstandes gab es auch aus alltagsgeschichtlicher Perspektive, so unterstreicht Fischer, keine Alternative.
Fischer arbeitet insgesamt überzeugend heraus, dass der passive Widerstand breiten Rückhalt in der Bevölkerung sowie den regionalen Eliten genoss und weder die Radikalen von rechts und links noch die Separatisten nennenswerten Einfluss erringen konnten. Ob dieser Widerstand in Distanz zu den Extremen freilich mit einer dezidierten Verteidigung der Weimarer Republik gleichzusetzen ist, wie Fischer an mehreren Stellen betont, erscheint genauerer Nachweise bedürftig. Im ganzen plausibel ist seine Kritik am harschen Besatzungsregime, dem es zwar gelang, den passiven Widerstand schließlich zum Erliegen zu bringen, nicht jedoch, wie von Poincaré angestrebt, die Bevölkerung für sich einzunehmen und für eine französische Oberheit zu gewinnen. Allerdings kommt hier ein Mangel der Studie zum Tragen: der völlige Verzicht auf die Heranziehung französischer und belgischer Quellen. Fischer deutet an, dass Erfahrungen mit der deutschen Besatzungsherrschaft in Belgien und Nordfrankreich während des Ersten Weltkriegs das Handeln der Besatzer - unter deren Offizieren und Unteroffizieren sich viele Weltkriegsveteranen befanden - beeinflussten, doch das hätte man gerne systematischer untersucht gesehen, zumal jüngere Studien, etwa die von John Horne und Alan Kramer, ein sehr düsteres Bild der deutschen Besatzungsherrschaft im Ersten Weltkrieg gezeichnet haben. Ungeachtet dieses Einwandes ist Fischers Studie ein wichtiger und lesenswerter Beitrag zur Sozial- und Alltagsgeschichte der Ruhrgebiets in den unruhigen Anfangsjahren der Weimarer Republik.
Dirk Schumann, Bremen