ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Carola Dietze, Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892-1985, Wallstein Verlag, Göttingen 2006, 622 S., geb., 45,00 €.

Es gab eine beachtliche Zahl von Philosophen, die vom NS-Regime ins Exil getrieben wurden, weil sie ihm ideologisch und politisch nicht genehm waren oder weil sie einen ,,nicht-arischen Makel" in ihrer Abstammung hatten. Ihre Gesamtzahl wird auf über 110 geschätzt, unter ihnen knapp die Hälfte Hochschullehrer. Diesen geistigen Aderlass hat das deutsche Kulturleben über Generationen nicht verkraftet, und auch die Rückkehr einiger namhafter Philosophen konnte die Verluste kaum verringern. Dabei gehörten zu den Rückkehrern solche, die in der Nachkriegszeit durchaus Bedeutung erlangten und nachhaltige Spuren hinterließen wie Theodor W. Adorno, Ernst von Aster, Ernst Bloch, Max Horkheimer, Karl Löwith und andere.

Wenn Hellmuth Plessner, der gleichfalls in diese Reihe gehört, heute - zu Unrecht - etwas verblasst ist, dann hat das sicher auch mit seinen philosophischen Werken zu tun, ganz sicher aber auch mit seiner schwierigen und verschlungenen Biografie, die wiederum von Exil, Untergrund, gescheiterten Rückkehrversuchen und schwierigen Berufungsfragen an deutschen Universitäten bestimmt wurde. Weder prägte er ganze Generationen - wie beispielsweise Heidegger - noch bildete er Schulen wie Adorno und Horkheimer über das Frankfurter Institut für Sozialforschung. Und dennoch ist sein Name aus der geistigen Entwicklung der Philosophie nicht fortzudenken. Dass das Wirken dieses bedeutenden Mannes nicht den ihm gebührenden Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein einnimmt, wirft fachliche, politische und biografische Fragen auf, die ein gesteigertes historisches Interesse verdient haben. Sie zu beantworten, hat sich als Aufgabe die umfassende Studie gesetzt, die Carola Dietze jetzt vorgelegt hat.

Plessner wurde 1892 als Sohn einer protestantischen Mutter und eines vom Judentum zum Protestantismus konvertierten jüdischen Arztes in Wiesbaden geboren. Die jüdischen Wurzeln scheinen dem Heranwachsenden lange nicht bewusst gewesen zu sein und auch später nicht viel bedeutet zu haben. Nur der Antisemitismus des Dritten Reiches konfrontierte ihn mit seiner Herkunft, und selbst als alter Mann reflektierte er die Judenfrage nur im Zusammenhang mit noch nachwirkendem oder wieder auflebendem nazistischen Gedankengut in der Bundesrepublik. Vielmehr kann man sagen, dass Helmuth Plessner in bürgerlichen Schichten des Kaiserreichs aufwuchs und sich ihren Werten und Normen verpflichtet fühlte. Seine Zugehörigkeit zu dem kurzlebigen Erlanger ,,Studentenrat" während der Revolution 1918 und seine Nähe zur (Mehrheits-)Sozialdemokratie blieben Episode. Er war und blieb ein den liberalen bürgerlichen Wertvorstellungen verhafteter und allem Radikalismus abholder Philosoph.

Zunächst studierte Plessner in Freiburg zunächst Medizin, wechselte aber bald zur Biologie und fand durch Diskussionen über die philosophischen Grundlagen der Naturwissenschaften den Weg zu Philosophie und Soziologie. Unter seinen Lehrern und Weggefährten finden sich Namen wie Hans Driesch, Wilhelm Windelband, Edmund Husserl, Max Weber und Max Scheler, Martin Heidegger und Nicolai Hartmann. Nach dem Ersten Weltkrieg habilitierte er sich bei Max Scheler und folgte ihm an die Universität Köln, die bis 1933 seine Wirkungsstätte blieb. Hier veröffentlichte er bis 1933 viele seiner wichtigsten Bücher, deren Inhalte sich immer stärker der philosophischen Anthropologie zuwandten. 1926 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt.

Plessners akademischer Werdegang wurde immer wieder durch unverschuldete und teilweise unvorhersehbare Ereignisse beeinträchtigt. Seine 1928 herausgebrachte Schrift ,,Die Stufen des Organischen", mit der er seine philosophische Anthropologie begründen wollte, wurden durch zwei andere gleichzeitig erscheinende Schriften namhafter Philosophen - Heideggers ,,Sein und Zeit" und Max Schelers ,,Die Stellung des Menschen im Kosmos" - gewissermaßen in den Schatten gestellt. Scheler warf Plessner sogar Plagiat vor, was ihm in der Folgezeit bei möglichen Berufungen auf einen philosophischen Lehrstuhl schadete. Den stärksten Einbruch lieferte aber bald darauf die 1933 einsetzende Herrschaft des NS-Regimes. Im Frühjahr 1933 wurde Plessner wegen seiner ,,nicht-arischen" Herkunft sukzessive von allen Ämtern und Funktionen von der Universität Köln entlassen. Zur selben Zeit starb sein Vater - offensichtlich infolge eines Selbstmordversuchs, für den die Angst vor der politischen Entwicklung wohl das Motiv geliefert haben dürfte. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, sich eine neue Existenz zu schaffen, emigrierte Plessner im Dezember 1933 in die Niederlande.

Für die nächsten 17 Jahre bildeten sie das Domizil, in dem Plessner in gewisser Weise auch eine neue Heimat fand. Durch das Engagement niederländischer Freunde und Hilfskomitees erhielt er einen maßvoll bezahlten, aber lebenswichtigen Lehrauftrag an der Universität Groningen. Sie war nicht sein Wunschziel, bot aber die Möglichkeit, die Verbindung zu Deutschland, zu seiner Mutter in Wiesbaden und zu Freunden und Fachkollegen in Deutschland aufrecht zu erhalten. Während der deutschen Besetzung wurde Plessner erneut entlassen und musste zeitweise untertauchen. Aus dem Blickwinkel des Exil reflektierte er die Vorgeschichte der NS-Zeit und die Fehlentwicklungen in der deutschen Geschichte. Seine hieraus resultierende Schrift, die in späteren Ausgaben den Titel ,,Die verspätete Nation" erhielt, wurde nach dem Kriege eine seiner einflussreichsten.

Nach 1945 war er, der niemals die niederländische Staatsangehörigkeit angenommen hatte, unter seinen Universitätskollegen nicht unumstritten, da nach allen Vorkommnissen auch ein demokratischer Deutscher für manche Niederländer einen Affront darstellte. Dennoch erhielt er, nachdem frühe Rückkehrwünsche sich zerschlagen hatten, durch einflussreiche Freunde eine Professur in Groningen, mit der die Auflage verbunden war, mindestens fünf Jahre Lehrtätigkeit in den Niederlanden auszuüben. Dennoch lebte Plessner stets mit dem ,,Blick nach Deutschland". Die Remigration blieb ihm die bevorzugte Option, sofern sie sich als möglich erwies. Eine Berufung nach Hamburg scheiterte letztlich an Intrigen konservativer Mitglieder der Berufungskommission. Erst 1950 erhielt Plessner einen Ruf an die Universität Göttingen - und zwar auf den Lehrstuhl für Soziologie. Allerdings wurde ihm auch eine philosophische Lehrtätigkeit gestattet, so wie sein Institut ja auch der juristischen und der philosophischen Fakultät gleichzeitig angehörte.

Mit knapp 60 Jahren endlich Inhaber des Lehrstuhls einer deutschen Universität, vollzog sich jetzt das, was die Autorin im Buchtitel als ,,nachgeholtes Leben" bezeichnete. Plessner baute ein Haus, gründete einen eigenen Hausstand, sammelte eine Schülerschar um sich und entfaltete zahlreiche wissenschaftliche, publizistische sowie hochschul- und verbandspolitische Aktivitäten, die ihm bis dahin verwehrt gewesen waren. Den Höhepunkt seiner akademischen Laufbahn war seine Übernahme des Rektorats, für die er eigene seine inzwischen fällige Emeritierung verschob. Besonderes Augenmerk richtet die Autorin auf die Berufungspolitik an deutschen Hochschulen, in der Plessner immer wieder seine Stimme erhob, um den Einfluss ehemaliger Nazis oder zumindest rechtslastiger Wissenschaftler zu bremsen. Den in der Nachkriegszeit aufgewachsenen Rezensenten erstaunte beim Lesen immer wieder, welche Fronten sich noch zwei Jahrzehnte nach Kriegsende auftaten.

Nach außen hin hatte der allseits geehrte und respektierte Plessner einen großen Teil seines wissenschaftlichen Werdeganges ,,nachgeholt", was ein harmonisches Resümee dieses Wissenschaftlerlebens nahelegen würde. Dennoch blieb manches für den Remigranten nicht ,,nachholbar". Nicht nur wurde er immer wieder als ,,zurückgekehrter jüdischer Wissenschaftler" tituliert, was wegen seines eher beziehungslosen Verhältnisses zum Judentums unangemessen war und zudem nicht selten von antisemitischen Ressentiments motiviert wurde. Plessner hatte seine kreativsten Jahre unter schwierigen materiellen Bedingungen oder im Exil verbringen müssen; in Göttingen veröffentlichte er keine größeren Werke mehr. Und es gelang ihm - anders als Heidegger oder der Frankfurter Schule - nicht, selbst eine Schule zu begründen. Die von ihm vertretene philosophische Anthropologie verlor nach seiner Emeritierung an Bedeutung und wurde durch andere Richtungen verdrängt. Als Plessner 1985 im Alter von 93 Jahren in Göttingen starb, war er in der Öffentlichkeit weitgehend vergessen.

Carola Dietzes Studie fußt auf einem breiten Quellenfundament: der Nachlass Plessners (in Groningen), die Universitätsarchive von Köln, Groningen, Hamburg und Göttingen, Nachlässe, Sammlungen und offizielles Schriftgut in über 30 Archiven, dazu Auskünfte von Zeitzeugen geben die Gewähr für umfassendes und wohl abschließendes Bild dieses Philosophen. Dabei verliert sich die Autorin nicht in unwichtigen Details und behält stets die wichtigen Fragestellungen im Blick. Und nicht zuletzt versteht sie es, durch einen flüssig geschriebenen Text das Interesse an Person, Schicksal und Werk Plessners wachzuhalten, sodass die Lektüre des knapp 540 Seiten umfassenden Textteils kein einziges Mal an Faszination verliert. Diese Arbeit erhielt 2006 den Preis des Deutschen Historikerverbandes. Nach der Lektüre kann man nur sagen: zu Recht.

Patrik von zur Mühlen, Bonn


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