ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Günther Schlee, Wie Feindbilder entstehen. Eine Theorie religiöser und ethnischer Konflikte (Beck'sche Reihe), C.H. Beck, München 2006, 224 S., kart., 14,90 €.

Als Historiker wird man Günther Schlees selbstkritische Frage, ob ,,Sozialwissenschaftler überhaupt über Wissen [verfügen], das der Alltagsklugheit überlegen ist" (S. 8), sogleich auf die eigene Fachkultur übertragen. In der Geschichtswissenschaft spielt die Konfliktforschung zwar seit den 1980er-Jahren eine zunehmende Rolle, doch konnte sie auch durch die Rezeption spezifisch sozialwissenschaftlicher Methoden nicht alle Probleme ihrer fachlichen Pfadabhängigkeit lösen. Hinzu kam eine defizitäre empirische Grundlage. Die Erforschung der Mikroebene von Feindbildern unterhalb der Imagologie und Mentalitätsgeschichte ist der Geschichtswissenschaft aufgrund einer äußerst schmalen Quellenbasis weitgehend unzugänglich. Das gilt umso mehr für die Epochen jenseits der Zeitgeschichte, für die oral history-Methoden nicht mehr in Frage kommen.

Günther Schlees Theorie ethnischer und religiöser Konflikte kennt solche Probleme nicht. Ihr Praxisbezug zur konkreten Konfliktberatung in realen Konfliktsituationen ist immer gegeben, dafür sorgt die aktuelle Präsenz ethnischer und religiös codierter Konflikte rund um den Globus. Der vierte Abschnitt der Monografie bietet daher konsequenterweise einen Erfahrungsbericht aus der Konfliktschlichtung. Schlees Ansatz ist von der Anwendungspraxis geprägt, geht aber darin nicht auf. Sein Anliegen ist es vielmehr, die Selbstverständlichkeit der Annahme von der konfliktverursachenden Wirkung kultureller, ethnischer und religiöser Identitäten dekonstruktivistisch zu delegitimieren. Diese Motivation erläutert Schlee im ersten Teil. Schlee überträgt hier den Erkenntnisstand der Nationalismusforschung in der Tradition von Benedict Anderson, Ernest Gellner u.a. auf das Konzept ,Ethnie', indem er Ethnizität im Sinne des Begriffs der imagined community als interessengeleitetes, sehr wandelbares und nicht konstantes Identitätskonstrukt charakterisiert. Ethnizität ist in dieser Sicht eine Form sozialer Identität, zu der, wie wir seit Ernest Renan wissen, gleichermaßen der voluntaristische Impuls des gemeinsamen Vergessens wie des gemeinsamen Erinnerns gehört. Ebenso wie Nationen das Produkt des nation-building in Nationalstaaten sind, erscheinen ethnische Identitäten als Ergebnis, nicht als Ursache ethnischer Konflikte. Im Folgenden mustert Schlee die Paradigmen, die bereits Renan in seinem berühmten Vortrag ,,Que'est-ce que c'est une nation" aus dem Jahr 1882 als Alleinstellungsmerkmale der Nation abgelehnt hat: Religion, Kultur, Rasse/Abstammung, Raum, Sprache. Schlee gelingt es dabei, das voluntaristische Moment in der Identitätskonstruktion treffend zu beschreiben, wenn er z.B. darauf verweist, dass die starke Betonung religiösen Selbstverständnisses nicht selten ein Rückgriff auf die Religion der Großeltern ist, der eine völlige Fremdheit gegenüber religiöser Überlieferung in der Gegenwart gegenübersteht. Ethnizität und aggressive religiöse Identität sind folglich als Verlaufsformen, nicht als Hauptursachen von Konflikten zu verstehen. Ebenso wie nationale Identität ein Produkt von Nationalismus sein kann, können religiöse Abgrenzungsideologien in ethischen Konfliktkostellationen ,erfunden' bzw. mobilisiert werden. Ethnische, kulturelle und religiöse Homogenität garantieren nicht die Vermeidbarkeit von Konflikten. Gerade weil die Grenze zwischen us und them immer wieder neu definiert und die damit verbundene Inklusions- und Exklusionsleistung immer wieder erbracht werden muss, tendieren nationalistische wie ethnozentristische Akteure zur Überhöhung ihrer Ethnie. Ethnische Unterschiede, so Schlee, ,,sind nur das Rohmaterial politischer Rhetorik." (S. 22) Diese Rhetorik bedient drei Identitätsmuster: die feindselige Mobilisierung gegenüber ,Fremden', die Integration von Gruppen nach innen und die gegebenenfalls die Koexistenz, sofern Verdrängungskonflikte z.B. ressourcenbedingt ausscheiden.

Schlees erkenntnisleitendes Ziel des zweiten Teils seiner Monografie, in dem er Bausteine zu einer Theorie der Konfliktgenese liefert, ist die ,,formale Beschreibung von Identifikationsoptionen in Konfliktsituationen" (S. 23) zur Beantwortung der Frage, ,,nach welchen Merkmalen [...] sich Menschen zu komplexen sozialen Gefügen [gruppieren], nach welchen Merkmalen [...] sie zwischen Freund und Feind [unterscheiden], nach welchen [...] sie Bündnisse und Koalitionen [schließen]?" (Ebd.) Um die Rationalität exklusivistischer bzw. inklusivistischer Identitfikationsstrategien analysieren zu können, stellt Schlee zunächst eine rational choice-orientierte Entscheidungstheorie in Konfliktsituationen vor. Dazu benennt er drei zu untersuchende Bereiche sozialer Identifikation: die ,,semantischen Felder von Identitätskonzepten", die auf kultureller Plausibilität beruhen müssen, um Sprache, Religion und Abstammung in eine stimmige Identität übersetzen zu können; die Akteure einer ,,Politik von Inklusion und Exklusion" sowie ihre Stellung in ihrer jeweiligen Bezugsgruppe; die ,,Ökonomie von Gruppengrößen und sozialer Position" als Frage nach Kosten und Nutzen von Identifikationsprozessen. In diesen Kategorien steckt wiederum ein erhebliches dekonstruktivistisches Potenzial. Schlee kann z.B. zeigen, dass die ökologisch-ökonomischen Ausgangsbedingungen soziale Praktiken nur bedingt determinieren, so dass der Entscheidungsspielraum für verschiedene Identitätsoptionen größer sein kann als es auf den ersten Blick erscheint. In handlungstheoretischer Perspektive untersucht Schlee dann Modelle von Inklusion und Exklusion vom Genozid bis zu diversen Formen der Verständigung von Siegern und Besiegten. Weitere Unterkapitel stellen u.a. die Argumentationslogik von Exklusions- und Inklusionsdiskursen, kritische Überlegungen zur Ökonomisierungstendenz in der Identifikationsanalyse sowie die Theorie der ,,Gewaltmärkte" vor. Schlee plädiert gegen eine monofaktoral ökonomische in Abgrenzung von einer monofaktoral soziologischen Argumentation und befindet sich auch damit im Einklang mit dem methodischen Selbstverständnis der integrativen und um Transdisziplinarität bemühten Nationalismusforschung.

Der dritte Teil thematisiert die fundamentalistische Herausforderung in islamischen Gesellschaften sowie den Zusammenhang von Sprache und Ethnizität. Diese Befunde sind für die theologiegeschichtlichen Ansätze Friedrich Wilhelm Grafs anschlussfähig, der in den letzten Jahren immer wieder - wenn auch unter Theologen weitgehend erfolglos - für die Rezeption der Theorie des religiösen Marktes und des religiösen Feldes geworben hat: ,,Die Korrelation zwischen erfüllten rituellen Anforderungen und erreichtem Status oder Macht existiert unabhängig von der Komplexität oder Simplizität oder vollkommenen Abwesenheit einer an die rituellen Anforderungen geknüpften Doktrin." (S. 125) Dies ist eine für Theologen aller Konfessionen schwer zu akzeptierende Aussage, die gleichwohl die sozial formierende Macht religiöser treffender beschreiben könnte als die stark auf die religiösen Inhalte abstellende Religionssoziologie in der Tradition Émile Durkheims.

Der vierte Teil der Studie führt eine praktische Anwendung der Konfliktanalyse in Somalia vor. Dem Historiker kann neben dem Methodenmix u.a. aus Datengenerierung, Quellenanalyse und Befragung die Sorgfalt auffallen, mit der ein Sozialwissenschaftler Prozesse der self fulfilling prophecy zu kontrollieren bemüht ist, ,,um ein Gefühl für die vorhandenen Empfindlichkeiten und Befangenheiten zu entwickeln" und herauszufinden, ,,welchen Einfluss [...] der Fragende darauf [hat], wie eine Frage beantwortet wird" (S. 190)

Schlees Überblick zur Feindbildgenese bietet ganz im Sinn von Hans-Ulrich Wehlers Forderung nach ,,theoriegeleiteter Geschichte" für die Geschichtswissenschaft wichtige Anregungen und Herausforderungen.

Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe


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