ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Werner Benecke, Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht in Russland 1874-1914, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006, 440 S., kart., 59,90 €.

Man muss Werner Benecke Respekt zollen für dieses Buch. Die meisten historiografischen Qualifikationsarbeiten, die in der Gewissheit entstehen, wissenschaftliches Neuland zu betreten, bewegen sich auf einer dünnen Grasnabe über Vergessenem. Benecke geht mit weniger Sendungsbewusstsein zu Werke und liefert mit seiner Göttinger Habilitationsschrift gleichwohl Bausteine eines Handbuchs, eine Referenzdarstellung in jedem Fall zur Sozialgeschichte des Militärs in der ausgehenden Zarenzeit. Ihm hilft, dass es in der Militärgeschichte Russlands leicht ist, neue Themen aus Forschungslücken zu generieren. Fraglos ist das Verhältnis von Militär und russländischer Gesellschaft kein neues Thema. Aber tatsächlich haben auch jene Historiker, die hinter den Siegen und Katastrophen, hinter Heldengesichtern und Opferzahlen nach tieferen Zusammenhängen fragten, sich in ihren Forschungen auf die kriegerischen Phasen der russischen Geschichte konzentriert. Benecke wählt bewusst die umgekehrte Perspektive. Seine Geschichte ist die der Musterungskommissionen und des alltäglichen Alkoholismus, der Soldatenlektüre und Reserveübungen, aber auch des militärischen Einsatzes im Inneren. Die etwas vage formulierte Leitfrage ist, was sich durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahr 1874 änderte - für die Wehrpflichtigen im Besonderen, aber auch für Russland insgesamt. Weil als eine Folge der Reform die Aktenproduktion und statistischen Erhebungen im Militär aufblühten, kann Benecke seine Arbeit auf eine breite Basis meist gedruckt vorliegender Quellen stellen. Zusätzlich hat er die reichhaltige zeitgenössische Publizistik ausgewertet.

Benecke verfolgt eine Palette von sozialgeschichtlichen Fallstudien zu Herkunft und Kasernierung der Rekruten, zur medizinischen und seelsorgerischen Betreuung, zu Weiterbildung und Aufstiegsmöglichkeiten von Soldaten. Auch wenn die eigentliche militärische Ausbildung und Disziplinierung merkwürdigerweise nicht behandelt wird, bietet das Buch unterschiedliche Einblicke in eine Geschichte des Militärdienstes und nicht (nur) der Wehrpflicht. Insofern ist der Untertitel irreführend, spielte doch die Vorstellung eines Staatsbürgers in Uniform oder einer Nation in Waffen im Zarenreich bis zu seinem Untergang keine Rolle. Geändert hatten sich mit der Reform von 1874 nur die Zugangsvoraussetzungen - in keinem anderen europäischen Land wurde auf wirtschaftliche und familiäre Belange der Wehrpflichtigen so viel Rücksicht genommen! - und die von 25 Jahren auf, je nach Bildungsstand, sechs Jahre bis sechs Monate verkürzte Dienstzeit. Im Prinzip galt die neue Wehrpflicht für alle männlichen Untertanen, die das Alter von 21 Jahren erreichten; sie war also nicht länger nur hauptsächlich den Stadt- und Bauerngemeinden aufgelastet. Faktisch jedoch wurde jedes Jahr nur ein Drittel eines Jahrgangs oder etwa eine Million Männer eingezogen. An der Unbeliebtheit des Soldatenlebens - die Matrosen bleiben bei Benecke unerwähnt - änderten alle Neuerungen freilich nichts. Im Widerspruch zum Geist der Reform wählten die bäuerlichen Selbstverwaltungsorgane, die wie früher kollektiv über die Rekrutenauswahl wachten, die Personen für den Militärdienst, die in der Dorfgemeinschaft den geringsten Rückhalt besaßen und in der Landwirtschaft entbehrlich waren, also überdurchschnittlich häufig Kranke, Schwache, Streithähne. Ihr Abschied vom Dorf war weiterhin ein kleines Sterben, obschon ein Wiedersehen jetzt durchaus wahrscheinlich war. Doch wenn, dann kehrten die Soldaten als Fremde zurück, verändert durch die militärische Sozialisation. Denn das Leben, das die Rekruten erwartete, war nach wie vor eine fremde Welt, deren Gesetze und Erfahrungen aber weniger von der Wehrpflicht geprägt waren als von der Disziplin und Logistik der größten Massenorganisation des Reiches.

Über diese Gesetze entsteht beim Lesen ein differenziert gezeichnetes Bild mit Tiefenschärfe. Es zeigt einerseits einen allmählichen Fortschritt etwa in der Rechtssicherheit oder medizinischen Versorgung; andererseits blieb die größte Armee der Welt im eigenen Land ein ungeliebter Fremdkörper. Als Basis für einen aggressiven Militarismus taugte Russlands Wehrpflichtarmee nicht. Dieses doppelte Ergebnis stützt sich auf Musterungsstatistiken und Wehrdebatten, auf die Analyse von Infrastrukturen oder Erbauungsliteratur. Auffallend ist hier der konsequente Blick von oben, die Wehrpflichtigen selber kommen so gut wie nicht zu Wort. Wenig erfährt man daher über ihre Mentalitäten, politischen Einstellungen und typischen Erfahrungen in Ausbildung und Militärdienst. Dabei wäre hier ein Schlüssel zu suchen, warum, wie Benecke etwas überrascht feststellt, auch ein Vierteljahrhundert nach der Reform ihre Akzeptanz bei den Betroffenen nicht gewachsen war. Eine überzeugende Erklärung liefert für eine Teilgruppe das Kapitel zu jüdischen Rekruten, die formal mit dem Gesetz von 1874 gleichgestellt waren, faktisch aber sowohl bei der Musterung als auch bei anstehenden Beförderungen diskriminiert waren. Doch insgesamt bleibt in diesem Buch das Leben in den Kasernen farblos.

Um die beiden genannten Befunde zu stärken, wären sie für Kriegs- und patriotische Hochzeiten zu überprüfen. Benecke bricht seine Darstellung aber vor dem Ersten Weltkrieg ab, obwohl dessen Innengeschichte gerade für Russland kaum erforscht ist. Insofern ist es billig, aber nicht ganz ungerecht, dem Autor daraus einen Vorwurf zu machen, dass er eine Armeegeschichte ohne Krieg schreibt, der so verschwiegen behandelt wird wie die Filzläuse von Soldaten. Beides waren aber durchaus keine randständigen Phänomene: Die Armee war 1874 ja nicht als Alphabetisierungsanstalt oder Statistikexperiment modernisiert worden, sondern als Machtinstrument für den kriegerischen Einsatz, den auch die zarische Generalität plante. Und wenn alle Erfolge im Bereich der Hygiene oder medizinischen Prophylaxe in Kampfeinsätzen schnell hinfällig wurden, wie Benecke nur andeutet, relativiert nicht dieser Praxistest nachhaltig die sozialpolitischen Fortschritte der Reform? Genau besehen, kann zwischen Friedens- und Kriegszeiten für den Untersuchungszeitraum auch gar nicht trennscharf unterschieden werden. Russland führte nicht nur zwei größere Kriege (gegen das Osmanische Reich 1876, gegen Japan 1904), sondern betrieb mit Nachdruck und militärischen Mitteln seine Expansion in Asien. Daher war der letztlich immer mögliche Kampfeinsatz für bäuerliche Rekruten kein leichtgewichtiges Argument, um die Wehrpflicht nicht als Errungenschaft, sondern als Strafdienst zu sehen - ungeachtet der sinkenden Morbidität und Mortalität bzw. steigender Alphabetisierungsquoten, auf die Benecke verweisen kann, die den eingezogenen Bauern aber sicherlich gleichgültig gewesen wären, wenn sie die Zahlen gekannt hätten.

Trotz der militärischen Modernisierung, so ist als Fazit festzuhalten, blieben die Armeen des Zaren vormodern geprägt, was die Rekrutierung und - vermutlich - was die Einstellung ihrer Soldaten anging. Jene Spannungen, die das Zarenreich in den letzten Jahrzehnten seines Bestehens erfassten, waren in den Armeen nicht zu sehen. Weder der wachsende politische Radikalismus noch die Nationalismen im russischen Vielvölkerreich schlugen sich vor 1914 in der Einsatzfähigkeit nieder. Keine wirkliche Ausnahme stellte hier der Antisemitismus dar, weil er durch die Ausgrenzung der jüdischen Minderheit die Mehrheit integrierte. Nur auf dem Papier hatte die allgemeine Wehrpflicht hier neue Maßstäbe gesetzt, in der militärischen Praxis oder Doktrin änderte sie wenig. Und das Viele, was sich änderte, war eine Folge des technischen und medizinischen Fortschritts oder politischer Verwicklungen - aber nicht der Wehrpflicht.

Andreas Renner, Köln


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