Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Thomas Albrich/Winfried R. Garscha/Martin F. Polaschek (Hrsg), Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich (Österreichische Justizgeschichte, Bd. 1), Studienverlag, Innsbruck etc. 2006, 364 S., geb., 29,90 €.
Österreich, so hat man es häufig gelesen, war ,,Hitlers erstes Opfer", denn mit dem sogenannten Anschluss 1938 endete die Eigenstaatlichkeit für sieben Jahre. Dennoch ist unbestreitbar, dass viele Österreicher in der Führung des Dritten Reiches und in der Wehrmacht Schlüsselpositionen bekleideten oder von Wien aus die Judenverfolgung tatkräftig mit umsetzten - dafür stehen beispielsweise Ernst Kaltenbrunner und Adolf Eichmann. Bis heute kreist die Kriegserinnerung in Österreich um diese beiden gegensätzlichen Pole. Die von den Alliierten bereits in der Konferenz von Moskau 1943 vorgenommene Klassifizierung Österreichs als Handlangerstaat Hitlers erlaubte es, sich mit dem Segen der Alliierten in der zweiten Republik Österreich mehr als Opfer denn als Täter zu sehen. Begreiflicherweise mussten Aufarbeitungsversuche der Schuld, besonders die Kriegsverbrecherprozesse dieses Bild stören, konfrontierten sie die Öffentlichkeit doch unmissverständlich mit einer hässlichen Täterfratze.
Doch die Prozesse beleuchteten ein weiteres Dilemma: Den einen gingen sie nicht weit genug, waren gar ein Schandfleck für das neue Österreich, den anderen galten sie als Ausdruck einer Rachejustiz von Sondergerichten auf zweifelhafter rechtlicher Grundlage. Das vorliegende Sammelwerk ist Frucht eines interdisziplinären Projekts zwischen Historikern, Politologen und Juristen zur Analyse aller Strafverfahren in Österreich nach 1945. Unter Zusammenarbeit dreier renommierter Forschungsinstitute, der Zentralen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz beim Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands in Wien unter Winfried Garscha, des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck unter Thomas Albrich sowie des Instituts für Österreichische Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsentwicklung unter Martin Polaschek an der Universität Graz, liegt nun erstmals ein Studienband vor, der darauf zielt, die Bruchstellen sichtbar zu machen, an denen der Nation vor Gericht der Spiegel vorgehalten wurde.
Dabei gehen die Autoren, darunter zahlreiche junge Historiker, der zentralen Frage nach, welchen Beitrag die österreichische Justiz bei der Verfolgung der Verbrechen des Holocaust und von Kriegsverbrechen leistete, auf welcher Grundlage sie dies taten, welche Schwierigkeiten dabei auftraten und welche Ergebnisse in der Ahndung erzielt wurden. Der Band folgt methodisch der durch Christiaan F. Rüter von der Universität Amsterdam in den 1960er-Jahren aufgestellten Kategorisierung der Verbrechen nach Tatkomplexen, Dienststellen und Opfern. Neben den Ergebnissen langjähriger Forschungen wagen die Autoren auch Neues und bieten beispielsweise unter dem Titel ,,Annäherungen" eine Übersicht bei bisher unbeackerten Themenfeldern. Herausgekommen ist ein wichtiger, dadurch jedoch auch sehr heterogener Forschungsbericht zu den Komplexen Novemberpogrom 1938, Euthanasie, Verbrechen gegen das Kriegsvölkerrecht, Verbrechen im Konzentrationslager Mauthausen, Denunziation mit Todesfolge, Endphasenverbrechen sowie Verbrechen im Zusammenhang mit dem Holocaust. Erstmals bietet der Band eine Darstellung der österreichischen Sondergerichtsbarkeit - den ,,Volksgerichten" - und den Rechtgrundlagen der Strafverfolgung. Abschließend wird mit einer Bilanz des justiziellen Umgangs mit den schwersten NS-Verbrechen im Vergleich zu Deutschland die Frage diskutiert, ob Österreichs Strafverfolgung erfolgreich war und welche Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zur deutschen Praxis bestanden. Der fakultätsübergreifende Ansatz ist sehr begrüßenswert, führt jedoch zu ganz unterschiedlicher Dichte in der Analyseebene. Zwar ist dies ein häufig anzutreffendes methodisches Problem interdisziplinärer Arbeit, gleichwohl ergibt sich die Heterogenität teilweise auch aus den Beiträgen selbst. Ein grundsätzlicher Verdienst des Bandes besteht jedoch darin, erstmals gesicherte Daten vorzulegen und damit auch zukünftigen Studien erstklassiges Material für eine Auswertung unter weitergehenden Fragestellungen zu liefern.
In ihrer Einführung bescheinigen Winfried Garscha und Claudia Kuretsidis-Haider der österreichischen Justiz grundsätzlich den Willen und auch die Energie zur Strafverfolgung, die bis 1955 die meisten Prozesse anstieß, weisen jedoch auf die ungenügende personelle Ausstattung der befassten Stellen hin, die dazu führte, dass bei weitem nicht in allen Fällen Anklage erhoben werden konnte. Die knappe Finanzierung entsprang offenbar politischem Kalkül: Für die meisten Politiker stellte die Strafverfolgung keine Herzensangelegenheit dar, sondern wurde allenfalls auf internationalen Druck hin befürwortet.
Thomas Albrich und Michael Guggenberger gelingt es, ihre These, dass 90 Prozent der Pogromverbrecher, die sich in der sogenannten Reichskristallnacht an jüdischem Gut und Leben vergriffen hatten, ungestraft blieben, mit beklemmenden Beispielen zu untermauern. Völlig unverständlich bleibt diese Straffreiheit angesichts der Dynamik, die sich in Österreich in diesem Pogrom ergeben und zu einer ungleich größeren Zerstörungswut als im nationalsozialistischen Bruderland geführt hatte. Die Übergriffe endeten erst am 15. November und belegen ein antisemitisches Aggressionspotenzial der örtlichen Bevölkerung gegen die eigenen Nachbarn, das angesichts des Einfallsreichtums an Demütigungen und Quälereien nicht nur dem im Beitrag ausführlich zitierten Simon Wiesenthal nach dem Krieg erschauern ließ.
Martin Achrainer und Peter Ebner setzen mit ihrem Beitrag über die Verfolgung der Euthanasie-Verbrechen in Österreich gleichsam einen Kontrapunkt zu diesen deprimierenden Ergebnissen, denn die Aburteilung der Mörder im weißen Kittel gilt mit fünf Todesurteilen und 28 Freiheitsstrafen in 13 zügig durchgeführten Verfahren als Erfolgsgeschichte. Wohlgemerkt: diesmal waren die Opfer wehrlose Mitglieder der österreichisch-deutschen ,,Volksgemeinschaft" und keine jüdischen Mitbürger.
Heimo Halbrainer nähert sich mit seiner Untersuchung der sogenannten Denunziationsverbrechen vor österreichischen Volksgerichten dieser Schnittstelle zwischen den Nachbarn. Viele private Rechnungen wurden mit Denunziationen beglichen, und es ist kaum plausibel, wenn vor Gericht argumentiert wurde, man hätte ja nicht ahnen können, dass der Beschuldigte ermordet werden würde. Die Bandbreite ist groß und umfasst verschiedenste Opfergruppen, Österreicher und andere, sie reicht von einer Anzeige der Nachbarin wegen illegaler Beziehung zu einem polnischen Zwangsarbeiter über Denunziation des Soldaten im März 1945 wegen ,,Kriegsmüdigkeit" bis zum Hinweis auf versteckte jüdische Nachbarn. Halbrainer kann vor allem zeigen, dass es keine klare Linie gab, der die Gerichte hätten folgen können, was die unterschiedliche Rechtsprechung und Strafbemessung erklärt. Zudem gibt es ein Gefälle je nach Landesteil: Während in Linz oder Graz überdurchschnittlich viele Freisprüche ergingen, fällten die Gerichte von Innsbruck und Wien harte Strafen. Die empirische Studie, die vielschichtige Quellen darstellt, bietet eine gute Grundlage für weitergehende Analysen, denn es stellt sich natürlich die Frage, was der Grund für diese regionalen Unterschiede gewesen ist.
Eva Holpfer und Sabine Loitfellner nähern sich in ihrem Aufsatz zu den Holocaustprozessen wegen Massenerschießungen und Verbrechen in Lagern im Osten einem bisher unerforschten Terrain, verbinden historische mit politikwissenschaftlichen Methoden und machen vor allem die vergangenheitspolitischen Hintergründe der gescheiterten Ahndung sichtbar. Mit der Nichtverfolgung von Erschießungskommandos und Gaswagenfahrern wurde der österreichische Opfermythos weiter gefüttert und, so belegen die Autorinnen, eine Chance vertan, die Erinnerung an die Beteiligung von Österreichern am Holocaust in der kollektiven Erinnerung Österreichs zu verankern.
Gabriele Pöschl bietet mit ihrer Einzelfallstudie anschaulich den Beleg für die vergangenheitspolitischen Mechanismen der 1960er-Jahre. Sie schildert anhand des Prozesses gegen den Gebietskommissar der Stadt Wilna, Franz Murer, die Verbrechen in den jüdischen Ghettos. Besonders beklemmend an ihrer Prozessanalyse ist die fortgesetzte Herabwürdigung der Überlebenden, die einer zweiten Verfolgung gleichkommt. Auch in Eva Holpfers Beitrag zur Ahndung der Deportationsverbrechen kommt die Rolle der Überlebenden in den Nachkriegsprozessen zur Sprache. Angesichts der zu Tätern gewordenen Opfer, den jüdischen Funktionshäftlingen und Kapos, die sich mitschuldig an der Ermordung ihrer Leidensgenossen gemacht hatten, zeigt sich ein moralisches Dilemma, lieferte doch die Schuld der Kapos Prozesskritikern die Möglichkeit, pauschal jüdische Opfer zu verhöhnen und ihre Leiden zu verharmlosen. Peter Eigelsbergers Darstellung der Strafverfahren um das KZ Mauthausen zeigt eine ähnliche Tendenz: Während kollaborierende Häftlinge streng bestraft wurden, nahmen sich Urteile gegen Aufseher und Wachmannschaften vergleichsweise milde aus.
Sabine Loitfellners Analyse der österreichischen Auschwitzprozesse von der Vorbereitung in den 1960er- bis zur Durchführung Anfang der 1970er-Jahre macht die Heuchelei des österreichischen Staatsantifaschismus augenfällig: trotz der lückenlosen Schuldzuweisung durch das Gericht, das den beiden Angeklagten Planung von Gaskammern und Krematorien sowie Umsetzung einer menschenverachtenden Politik in den Lagern selbst nachwiesen, ist die fehlende Rezeption des Urteils in der Öffentlichkeit doch enttäuschend, denkt man daran, dass es neben der Bestrafung auch eine Rolle spielt, eine aufklärerische Wirkung für die Gesellschaft zu erzielen. Das öffentliche Schweigen sagt jedoch viel über den Zustand des österreichischen Opfermythos in den Siebzigerjahren aus.
Winfried Garscha schließlich greift in seinem Beitrag die Legende vom Sauberen Krieg heraus und untersucht die österreichischen Völkerrechtsverletzungen. Die Bastion des tapferen österreichischen Wehrmachtsoldaten wird geschleift im Trommelfeuer der Ergebnisse, zum Beispiel zur Partisanenbekämpfung und Verbrechen gegen Kriegsgefangene. Die Bilanz der Strafverfolgung ist jedoch uneinheitlich: Neben krassen Fehlurteilen gab es sogar Freisprüche. In ihrem Beitrag zu den Endphasenverbrechen schildert Susanne Uslu-Pauer die Verfahren wegen der sogenannten Todesmärsche. Obwohl bei der Evakuierung der nationalsozialistischen Lager Tausende Menschen die Strapazen des Marsches - wohl kalkuliert - nicht überlebten, gab es hier nur in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, als die Erinnerung an die Verbrechen in der Bevölkerung noch hohe Anteilnahme fand, harte Strafen, nach 1955 jedoch überdurchschnittlich viele Freisprüche der angeklagten Wachtposten und Begleitkommandos.
Martin Polaschek und Bernhard Sehl setzen sich aus juristischer Sicht mit der Arbeit des Obersten Gerichtshofes in Österreich auseinander, der die Überprüfungsinstanz aller Kriegsverbrecherprozesse darstellte. Die Autoren können nachweisen, dass hierbei die öffentliche Meinung und der dadurch spürbare politische Druck handlungsleitend wurden und Priorität vor der Auslegung von Gesetzestexten genossen. Abschließend vergleicht Claudia Kuretsidis-Haider die Judikatur in Deutschland und Österreich und bilanziert, in der Bundesrepublik sei die Ahndung von Kriegsverbrechen konsequenter verfolgt worden als in Österreich, zudem sei sie durch höhere Akzeptanz in der Bevölkerung gekennzeichnet gewesen und habe einen Widerhall unter den Intellektuellen erzeugt, also zu gesellschaftlicher Auseinandersetzung geführt.
Angesichts der oftmals deprimierenden Bilanz der einzelnen Aufsätze muss man noch einmal unterstreichen, dass das Ergebnis der Studiengruppe darin besteht, dass die Strafverfolgung in Österreich weit energischer und umfangreicher vorangetrieben wurde, als allgemein anerkannt wird. Mängel und Versäumnisse sind vor allem politischem Kalkül anzulasten. Grund dafür waren die ,,Lebenslüge" der zweiten Republik durch ihren Gründungsmythos vom ,,ersten Opfer Hitlers" - und ihre Politiker, die nach Wiedererlangung der staatlichen Souveränität 1955 keine Notwendigkeit zur Aufarbeitung mehr sahen, um Wählerstimmen und Macht nicht leichtfertig verlustig zu gehen. Die Studie leistet in vielen Gebieten Pionierarbeit, die zweifellos zur Grundlage künftiger Forschung werden wird.
Kerstin von Lingen, Tübingen