Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Gisela Teistler (Hrsg.), Lesen lernen in Diktaturen der 1930er und 1940er Jahre. Fibeln in Deutschland, Italien und Spanien (Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Bd. 116), Hahnsche Buchhandlung Hannover, Hannover 2006, 288 S., zahlr. Abb., kart., 28,00 €.
Eine Tagung im Georg-Eckert-Institut in Braunschweig im Jahre 2004 zum Thema Faschisierung von Fibeln in Italien, Deutschland, Österreich und Spanien ist der Hintergrund für den Sammelband ,,Lesen lernen in Diktaturen der 1930er und 1940er Jahre", herausgegeben von Gisela Teistler. Die Autorinnen und Autoren haben sehr unterschiedliche Zugriffe, die dadurch entstehende Facettenvielfalt macht die Lektüre spannend. Drei Schwerpunkte werden von der Herausgeberin benannt: (1) staatliche und kirchliche Einflussnahmen, (2) politische und gesellschaftliche Erziehungskonzepte sowie (3) Analysen von Illustrationen und religiösen Inhalten.
Bereits beim ersten Themenkreis werden Unterschiede zwischen den untersuchten Ländern sehr deutlich: Während in Deutschland und Österreich die zunehmende Bedeutungslosigkeit der Kirche sowie christlicher Inhalte konstatiert werden kann (Mätzing, Teistler), lässt sich in Italien die zunehmende (Wieder-)Annäherung von Staat und Kirche nachzeichnen und schließlich für Spanien die enge Ehe zwischen Katholizismus und Hispanismus im Franquismus als ,,Nationalkatholizismus" (Montés, S. 225) festhalten. Diese Unterschiede waren so gravierend, dass kaum eine Schnittmenge zwischen den staatlichen Strategien der untersuchten faschistischen Regime bleibt. Vermutlich würde eine Untersuchung z. B. von Rumänien oder Kroatien die Bandbreite der Strategien kaum vergrößern.
Beim zweiten Themenkreis (politische und gesellschaftliche Erziehungskonzepte) werden in der Summe einige Probleme einer abschließenden Beurteilung deutlich. Zum einen führte das für faschistische Regime typische Kompetenzgerangel (für Italien Charnitzky, S. 75, ,,Kompetenzanarchie", Müller-Kipp, S. 133, für Deutschland) eben nicht immer zu einheitlichen Vorgehensweisen, sondern eher zu einem relativ breiten Spektrum. Nicht nur die Auseinandersetzung zwischen staatlichen und Parteiinstanzen, sondern auch die keineswegs gleichgelagerten kommerziellen Interessen der Akteure auf dem Schulbuchmarkt lassen eine Einheitsfibel eben auch erst als Schluss eines langen Prozesses erwarten. Selbst die Zieldefinition wurde in den zwölf Jahren der Nazis verändert: Erst (ab 1934) sollten Erstklässler die sütterlinsche Version der Frakturschrift (ideologisch verbrämt ,,deutsche" Schrift) lernen, dann ab 1941 die lateinischen Buchstaben. Bestenfalls dort, wo insgesamt neue Strukturen aufgebaut werden mussten, also in neu dem Reich zugeschlagenen Gebieten, konnten entscheidende Schritte in diese Richtung erwartet werden - wenn auch durch die Kriegsplanwirtschaft gebremst. Eine Einbeziehung der Fibeln in den besetzten und/oder eingegliederten Gebieten, wie dem Generalgouvernement oder dem Reichsgau Wartheland (im Selbstverständnis ein ,,Mustergau"), in denen nicht auf tradierte Strukturen Rücksicht genommen werden musste, hätte möglicherweise eine Einschätzung der Zukunftsvision der Nazis erlaubt (die Fibel im Reichsgau Wartheland wird nur mit einem Illustrationsbeispiel angeführt, S. 141). Zum anderen reduzierte jedenfalls in Italien die Konkurrenz von Jugendorganisation und Schule bereits für Grundschulkinder die Bedeutung der Schule aus der Sicht der Machthaber (Cajani). Zum dritten können die Autorinnen und Autoren zwar aus den untersuchten Fibeln Rückschlüsse auf die Intentionen von Autoren und Genehmigungsinstanzen ziehen, aber eine Wirkungsanalyse liegt bisher nicht vor (Müller-Kipp weist ausdrücklich auf dieses Desiderat hin, S. 147 f.).
Dieses Desiderat gilt auch für den dritten Themenkreis (Illustrationen und religiöse Inhalte). Insgesamt wird deutlich, dass es eine lange Entwicklung hin zu den faschistischen Machthabern genehmen Fibeln gab. Vielfach handelte es sich um behutsame Weiterentwicklungen aus vorfaschistischer Zeit. Für alle untersuchten Länder werden so Brüche und Kontinuitäten erkennbar. Während in Italien schließlich die Einheitsfibel entstand, blieben entsprechende Pläne in Deutschland unrealisiert. Offenbar waren völlig neue Fibeln auch gar nicht erforderlich: die Inhalte der jeweils bisher gebräuchlichen Fibeln in Italien, Österreich und Deutschland waren schon vorher so eindeutig nationalkonservativ eingefärbt, dass vielfach Retuschen genügten. Die Suche nach radikalen Brüchen zwischen vorfaschistischer Zeit und danach führt in den untersuchten Materialien weitgehend zu Fehlanzeigen (Müller-Kipp, Popp, Kissling, Malina). Demgegenüber fallen Kontinuitäten zwischen den ersten beiden bzw. drei Dekaden in Italien, Österreich und Deutschland sehr ins Auge, dies gilt nicht zuletzt für Geschlechtsstereotypen (Müller-Kipp). Bemerkenswert ist: Die Beiträge über Österreich (Kissling, Malina), Italien (Cajami) und Spanien (Montés) stellen auch Kontinuitäten über 1945 hinaus dar, über Deutschland beschränkt sich der Blick auf Fibeln im Nachkriegsdeutschland auf eine Fußnote. Hier drängt sich auf, die Untersuchung zu vertiefen: ob und in welchem Umfang und in welchen Bundesländern wurden Fibeln genehmigt, die nur Überarbeitungen der Ausgabe vor 1945 darstellen oder in denen mit Materialien weitergearbeitet wurde, die vorher den Nazis genehm waren? Es wäre doch allzu merkwürdig, wenn es ausgerechnet bei den Fibeln in Deutschland eine ,,Stunde Null" gegeben hätte.
Ein wenig ärgerlich ist, wenn von Historikerinnen und Historikern nazistische Propagandasprachregelungen unkommentiert übernommen werden: ,,Machtergreifung", ,,Drittes Reich" oder ,,deutsches Heldentum" (Götz). Auch Sammlungen von Kräutern und Waldfrüchten - wie sie übrigens bis in die fünfziger Jahre üblich waren - nur unter dem Aspekt ,,regimestabilisierende Funktion" der Grundschule anzuführen, ohne auf mögliche wünschenswerte sozialisierende Effekte einzugehen, greift für (Schul-) Historiker zu kurz (Götz).
Der Band versammelt eine Zwischenbilanz: Die Beiträge dokumentieren nicht zuletzt Notwenigkeiten weiterer Forschung, aber auch Mängel einer Perspektivdiskussion dieser Forschung. Auch deshalb ist die Lektüre gewinnbringend.
Georg Hansen, Hagen