Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Bösl, Elsbeth/Nicole Kramer/Stephanie Linsinger, Die vielen Gesichter der Zwangsarbeit. ,,Ausländereinsatz" im Landkreis München 1939-1945, K. G. Saur Verlag, München 2005, 195 S., geb., 38,00 €.
Das lange vernachlässigte Thema Zwangsarbeit im ,,Dritten Reich" hat sich inzwischen zu einem der am intensivsten bearbeiteten Gegenstände der jüngeren deutschen Geschichte entwickelt. Hierzu trugen nicht zuletzt die vielen, insbesondere im Kontext der Entschädigungsdebatte entstandenen Regional- und Lokalstudien bei, deren Zahl sich kaum mehr überblicken lässt. Gleichwohl können nicht alle Aspekte des nationalsozialistischen ,,Ausländereinsatzes" als aufgearbeitet gelten; Lücken bestehen insbesondere für den Einzel- und Kleingruppeneinsatz im ländlichen Raum und speziell in der Landwirtschaft. Einen Beitrag zur Erforschung dieses Themas leistet die jüngst von drei jungen Historikerinnen der Ludwig-Maximilians-Universität München vorlegten Studie über den ,,Ausländereinsatz" im Landkreis München.
Elsbeth Bösl, Nicole Kramer und Stephanie Linsinger setzen sich zum Ziel, ,,anhand der Kriterien Versorgung, Unterbringung, Arbeitsbedingungen und Mobilität [...] die Position der ausländischen Arbeitskräfte" - Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge - ,,in der Kriegsgesellschaft zu bestimmen" (S. 13). Dabei soll ermittelt werden, wie ,,Leistungsprinzip, Rassenideologie, Mangelmanagement und wirtschaftlicher Pragmatismus" gegeneinander wirkten. Die Spannung zwischen rassistischer und ausländerfeindlicher Ideologie zum einen und ökonomischem Zwang und Effizienzdruck zum anderen gilt spätestens seit Ulrich Herberts grundlegender Arbeit als wesentliches Strukturmerkmal des nationalsozialistischen ,,Ausländereinsatzes". (1) Es geht in der vorliegenden Studie letztlich darum herauszufinden, wie sich diese Spannung auf lokaler Ebene darstellte und konkret auswirkte, und zwar in einem von kleinen und mittelgroßen landwirtschaftlichen Betrieben geprägten Landkreis, in dem die ausländischen Arbeitskräfte 1944 etwa ein Fünftel der Bevölkerung ausmachten.
Die wichtigste Quellengrundlage bildet Verwaltungsschriftgut auf vier Ebenen: die Überlieferung von Reichsbehörden, Parteiorganen und Wehrmacht im Bundesarchiv bzw. Bundesarchiv-Militärarchiv, die Akten der bayerischen Landesministerien im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, die Bestände des Staatsarchivs München (Landratsamt, Partei- und Polizeidienststellen des Regierungsbezirks, Spruchkammerverfahren und UNRRA-Listen (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) der Nachkriegszeit) und diverse Gemeindearchive. Ergänzend hinzu kommen Quellen des Bayerischen Wirtschaftsarchivs, Gespräche mit deutschen Zeitzeugen und schriftliche Erinnerungsberichte ehemaliger Zwangsarbeiter aus Osteuropa. Hieraus ergibt sich ein ebenso umfang- wie facettenreiches Quellenkorpus.
Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel. Eine ausführliche Einleitung legt unter anderem die Grundlinien des nationalsozialistischen ,,Ausländereinsatzes" dar und gibt einen Überblick über dessen quantitative Dimension im Landkreis München. In den Jahren 1939-1945 hielten sich dort etwa 13.500 ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene auf, unter denen im Vergleich zum Reichsdurchschnitt Franzosen, Italiener, Serben und Kroaten überrepräsentiert waren. Kapitel II geht knapp auf die Frage ein, wie und unter welchen Umständen verschiedene Ausländergruppen zu ihren Einsatzorten im Landkreis kamen, wobei das Schicksal der ,,Ostarbeiter" im Mittelpunkt steht (Rekrutierung, Transportbedingungen, Aufenthalt im Durchgangslager). Das Kernstück der Untersuchung bildet Kapitel III über die ,,Arbeits- und Lebensbedingungen im Landkreis München", das neben Arbeit, Grundversorgung, Krankheit und Schwangerschaft die Frage von Mobilität und individuellem Bewegungsspielraum sowie die Aspekte Bestrafung und Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung behandelt. Kapitel IV befasst sich mit der letzten Kriegsphase im Zeichen des politisch-gesellschaftlichen Zusammenbruchs, mit dem Schicksal der ehemaligen Zwangsarbeiter in der unmittelbaren Nachkriegszeit unter amerikanischer Besatzung und mit der Repatriierung. Ein kurzes Schlusskapitel (V) fasst die Ergebnisse zusammen.
Wesentlich für die Vorgehensweise der Autorinnen im Hauptteil des Buches ist zweierlei: zum einen die beständige Gegenüberstellung von formalen Bestimmungen und tatsächlicher Praxis, zum anderen die Betrachtung der ausländischen Arbeitskräfte als Teil einer ,,Kriegsgesellschaft", die Deutsche wie auch Ausländer umfasste - ein fruchtbarer Ansatz, der letztere nicht isoliert, sondern in ihrer Interaktion und Interdependenz mit der deutschen Gesellschaft erfasst. Anhand zahlreicher Fallbeispiele wird demonstriert, dass die Praxis vielfach nicht dem Regelwerk entsprach - teils aus humanitären Gründen, meist aber, weil sich das Regelwerk schlicht als nicht praktikabel erwies. Die meisten Deutschen standen der diskriminierenden Behandlung der Ausländer weitgehend indifferent gegenüber. Die Autorinnen zeigen weiter, dass in kleinen Betrieben mit persönlichem Kontakt zum Arbeitgeber und insbesondere in der Landwirtschaft Unterbringung und Versorgung meist besser waren als in großen Industriebetrieben, betonen jedoch, dass persönlicher Kontakt erträgliche Arbeits- und Lebensbedingungen keinesfalls garantierte. Dass der einzelne Arbeitgeber beträchtliche Gestaltungsspielräume hatte und damit das Los der Ausländer maßgeblich beeinflusste, trifft für die Situation auf dem Land in besonderem Maße zu, wo Arbeitsgeber über eigene Sanktionsmittel, etwa das gegenüber Polen und ,,Ostarbeitern" ohne Vorbehalte praktizierte Mittel der körperlichen Züchtigung verfügten (S. 133).
Damit bestätigen Bösl, Kramer und Linsinger im Wesentlichen die Ergebnisse älterer Regionalstudien. Zusätzlich liefern sie manch interessantes Detail. Das gilt etwa für die letzte Kriegsphase, die sich für die Ausländerinnen und Ausländer trotz sukzessiver rechtlicher Gleichstellung mit deutschen Arbeitskräften und ausgeweiteten Handlungsspielräumen oft als besonders leidvoll und lebensbedrohlich erwies. Eine wichtige Rolle im Landkreis München spielte hierbei, dass viele Betriebe ihre ausländischen Arbeitskräfte einfach entließen, als diese angesichts von Produktionsrückführungen und Stilllegungen nicht mehr gebraucht wurden. Die ehemaligen Zwangsarbeiter verloren so Verpflegungsquelle und Unterkunft, was zur Herausbildung der in der Erinnerung der Zeitzeugen allseits präsenten ,,Ausländerbanden" wesentlich beitrug. Gleichzeitig konzentrierten sich die Sicherheitskräfte ganz auf Überwachung und Repression der Ausländer, die von der mit sich selbst beschäftigten einheimischen Bevölkerung lediglich als Sicherheitsgefährdung wahrgenommen wurden.
Grundsätzlich bekräftigt die Studie die vorherrschende Forschungsmeinung, der zufolge es den Ausländern auf dem Land üblicherweise besser ging als in großen Städten. Freilich bemühen sich die Autorinnen sowohl um eine stärkere Differenzierung als auch um stärkere Relativierung. So stellen sie zum einen die große Bandbreite der Schicksale - die ,,vielen Gesichter der Zwangsarbeit" - für den untersuchten ländlichen Raum heraus. Zum anderen zeigen sie auf, dass auch hier letztlich ,,Unterdrückung, Ausbeutung und Not der Zwangarbeiter" (S. 172) überwogen. Wünschenswert wäre eine Konfrontation dieser Ergebnisse und Interpretationen mit denen Annette Schäfers gewesen, die die pauschale Annahme einer Besserstellung der Zwangsarbeiter auf dem Land mit dem Hinweis auf verschärfte Kontrolle und erhöhte Wachsamkeit der Gestapo gerade auf dem Dorf zurückweist. (2) Auf diesem Wege hätte die Ambiguität kleinräumiger Lebenswelten - größere Chancen auf menschliche Behandlung aufgrund persönlicher Kontakte einerseits, verschärfte soziale Kontrolle andererseits - für das Schicksal der Zwangsarbeiter pointierter herausgestellt werden können. Dass Schäfers Arbeiten offenbar nicht zur Kenntnis genommen wurden, ist ebenso bedauerlich wie erstaunlich angesichts der Tatsache, dass ansonsten die ältere wie neuere Forschung vorbildlich in die Darstellung eingearbeitet wurde.
Dessen ungeachtet legen die Autorinnen nicht nur eine quellengesättigte Studie von unbestreitbarer ortsgeschichtlicher Bedeutung vor, sondern leisten auch einen wertvollen Beitrag zur überregionalen Forschungsdiskussion über das Los der ausländischen Arbeitskräfte im ländlichen Raum, die noch bei weitem nicht abgeschlossen ist. Überdies ist das Buch gut geschrieben und - nicht zuletzt dank der 47 Abbildungen - sehr anschaulich.
Fabian Lemmes, Florenz
Fußnoten:
1 Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des ,,Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin etc. 1985; Bonn ²1999.
2 Vgl. insb. Annette Schäfer, Zwangsarbeiter und NS-Rassenpolitik. Russische und polnische Arbeitskräfte in Württemberg 1939-1945, Stuttgart u.a. 2000.